Utopien zweier Visionäre: Zwei verkannte Künstler, eine Utopie
Friedrich Kiesler und Walter Pichler haben auf ihrem Gebiet jeweils utopische Lebenswelten entworfen. Eine Ausstellung in Krefeld bringt sie zusammen.
![Ein immersiver Ausstellungsraum in Krefeld mit Fotos, Installationen und Wanddekorationen von Kiesler und Píchler Ein immersiver Ausstellungsraum in Krefeld mit Fotos, Installationen und Wanddekorationen von Kiesler und Píchler](https://taz.de/picture/7522345/14/0001-KWM-Kiesler-Pichler-Presse-HiRes-DR24537--DR24540-Pano-1.jpeg)
Bei der Internationalen Ausstellung neuer Theatertechnik 1924 in Wien präsentierte der Architekt Friedrich Kiesler den Entwurf einer „Raumbühne“. Vor rund 100 Jahren war seine Idee ein radikaler Beitrag zu einer Diskussion, in der es darum ging, das Theater zu modernisieren und die herkömmliche Guckkastenbühne zugunsten eines Inszenierungserlebnisses aufzubrechen, das man heute als „immersiv“ bezeichnen würde.
Der Entwurf war Kernstück von Kieslers „Railway Theater“, seine Antwort auf die damals zunehmende Dynamisierung des Alltags. Nach Kieslers Vorstellung sollte sich die Bühne selbst in Bewegung setzen, der Zuschauerraum sollte um die schwebende Bühne kreisen.
Bald 40 Jahre später beschäftigte sich der Wiener Architekt, Künstler und Möbeldesigner Walter Pichler mit radikalen Raum-, Wohn- und Städtebau-Utopien und präsentierte 1963 seine Vision einer „Kompakten Stadt“, die seinerzeit als Modell in der Wiener Galerie nächst St. Stephan zu sehen war.
Höhnische Urteile
Die historischen Reaktionen fielen überwiegend verständnislos aus, Kritiker urteilten höhnisch: „ein schwangerer Motorradrahmen mit Grabstein“. Pichler zog wenige Tage nach der Ausstellungseröffnung resigniert in die USA, genauer nach New York, wo sein langjähriges Vorbild Friedrich Kiesler schon geraume Zeit lebte und arbeitete.
„Visionäre Räume“. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler in einem Display von raumlaborberlin, Kaiser Wilhelm Museum Krefeld, bis 30. März 2025
Die Raumbühne war nicht die einzige Utopie des österreichisch-amerikanischen Architekten Friedrich Kiesler, die niemals zu gebauter Realität wurde. Fotos des Modells seines Raumtheaters, das einst im Wiener Konzerthaus aufgebaut wurde, sind nun im Krefelder Kaiser Wilhelm Museum erneut zu sehen und Teil der ein gutes Jahrhundert überspannenden Ausstellung „Visionäre Räume. Walter Pichler trifft Friedrich Kiesler in einem Display von raumlaborberlin“. Sie bringt das in die Zukunft gerichtete Denken der beiden erneut zusammen.
Durch die kongeniale Installation des Berliner Architekturkollektivs raumlabor werden die beiden Visionäre von einst aktualisiert und weitergedacht in Richtung Nachhaltigheit. Objekte, Möbel und Modelle beider Vordenker präsentiert raumlabor zwischen gebrauchten Raumtrennern oder auf Sockeln aus dem Depot des Museums. Auch aussortierte Stoffe aus der Krefelder Textilproduktion nahmen sie ins Ausstellungsdesign mit auf.
Die Raumstadt
Im zentralen Saal des Museums ist Kieslers „Raumstadt“ aufgebaut, ein riesiges rechtwinkliges Gebilde, das nach allen Seiten hin offen ist. 1925 hatte Kiesler damit an der Messe für Industriedesign in Paris teilgenommen und sorgte damit für Furore, aber auch sie blieb Utopie. Auch dem Künstler-Architekten Walter Pichler blieb ein breites Verständnis versagt, seine skurrilen, skulpturalen Entwürfe der 1960er wurden eher als Kunst denn als utopische Ideen für Lebenswelten begriffen.
Verblüffend sind die Parallelen im Denken und Schaffen beider in Österreich geborener Multitalente, die fast 50 Jahre trennten. Beide waren Visionäre und ihrer Zeit weit voraus. Bei beiden durchdrangen sich Kunst, Architektur und Design auf unentwirrbare Weise, was die Krefelder Ausstellung von raumlaborberlin noch unterstreicht. Sie verbindet die einzelnen Objekte zu Installationen. In dieser Präsentation werden sie mitunter erheiternd überhöht.
Da gibt es beispielsweise Walter Pichlers „Glücksanzug“, eine utopische Maschine, die den menschlichen Körper umgibt, etliche futuristische Sitzmöbel im Geiste der Popart, biomorphe Möbel der 1930er Jahre, mit denen Kiesler die Nierentisch-Ära schon vorausahnte. In vielfacher Ausführung und sogar in einem alten Film ist Kieslers „Endless House“ zu sehen, das er seit 1950 in diversen Zeichnungen und Plastiken darstellte, jedoch wiederum nie im Maßstab 1:1 bauen konnte. Die eiförmige Architektur experimentiert mit Licht, Raumfluss und organischen Texturen.
Durchlässiges Wohnen
Berührungspunkte zwischen Kiesler und dem 46 Jahre jüngeren Walter Pichler gab es nicht nur in ihrer Durchlässigkeit zwischen Stadt, Wohnen und Skulptur, sondern auch in ihrem gemeinsamen Interesse für Sensorik, Performance, für spirituelle Themen, organische Materialien, Morphologien und ihrem gewitzten Sinn für Funktionalität.
Die Ausstellung ist in sechs Kapitel unterteilt, von „archiplastisch“ bis „funktional“, die Objekte und Ideen wirken ungemein anregend und aktuell. Beide rückten das menschliche Maß, die organische Form und eine Wohnsituation in den Mittelpunkt, in der ein Innenraum nicht mehr von der Umwelt abgeschottet ist. Kiesler lieferte zu diesem Denken auch die Theorie des „Correalismus“, anhand derer er die Wechselwirkung zwischen Mensch und Umgebung beobachtete. Und das bereits in den 1930er Jahren!
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