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Ute, 71, Rentnerin

Bis Corona kam, haben mein Mann Frank und ich jeden Tag unsere Mütter im selben Altenheim besucht. Meine Mutter hatte Demenz, Franks Mutter benötigte mit 90 viel Betreuung.

Im Frühjahr 2020 durfte plötzlich niemand mehr ins Heim. Erst brachten sie zu Terminen unsere Mütter ins Freie, bald durften wir sie nur noch am Fenster mit einer Tischlänge Abstand besuchen. Meine Mutter war so dement, sie hat das gar nicht mehr mitbekommen. Meine Schwiegermutter hingegen schon, aber immer hat sie gefragt: Warum kommt ihr nicht mehr rein und besucht mich? Mit jedem Besuch am Fenster wurde sie teilnahmsloser.

Als wir sie dann im harten Lockdown gar nicht mehr sehen durften, lief auch das Telefonieren nicht mehr gut. Nur einmal, als sie nach einem Sturz eine tiefe Platzwunde am Kopf hatte, durften wir sie im Heim sehen. Wenn sie sagte, im Heim gehe es ihr nicht gut, konnten wir nur telefonisch nachforschen. Und dann starb sie auch noch im Krankenhaus – ganz alleine. Bis heute fragen wir uns, was damals im Heim eigentlich passiert war. Meinen Mann hat das richtig aufgefressen. Wir sind noch in der Nacht hingefahren und durften mit Mundschutz aufs Zimmer. Sie war ja schon tot. Wir fragten uns, ob das mit Schutzkleidung nicht vorher gegangen wäre. Vier Wochen später verstarb auch meine Mutter. In der Woche, in der sie im Sterben lag, durften meine Schwestern und ich sie in Schutzkleidung besuchen.

Später haben wir uns auch angesteckt. Im Urlaub, in einem Hotel mit gerade mal sechs anderen Gästen. War es also doch richtig, alles abzusperren? Das hat uns zerrissen: die Angst, jemanden im Heim anzustecken und zugleich die Mutter im Stich zu lassen. Unsere Mütter sind zuletzt nicht an Corona gestorben. Sie starben an Herzschmerz.

Bis heute ist Corona für uns allgegenwärtig. Aber wir versuchen, nach vorne zu gucken. Die Schwiegermutter war 96, ein schönes Alter und vielleicht wäre sie auch so gestorben.

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