Urteilsbegründung im NSU-Prozess: 3.025 Seiten Schuldspruch
21 Monate nach dem NSU-Urteil legt das Oberlandesgericht München jetzt die schriftlichen Urteilsgründe vor. Nun sind die Verteidiger am Ball.
Das Gericht reizte damit seine Frist fast bis zum letzten Tag aus. Fünf Jahre wurde in München über die zehn Morde, drei Anschläge und 15 Raubüberfälle des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ um Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt verhandelt, die das Trio von 1999 bis 2011 verübte – bis zum Schluss unerkannt. Wegen der langen Prozessdauer hatte das Gericht 93 Wochen Zeit für seine schriftlichen Urteilsgründe, bis zum Mittwoch in dieser Woche. Und dies reizten die Richter fast aus.
Die schriftlichen Urteilsgründe seien fertiggestellt und am Dienstag zu den Akten genommen worden, teilte ein Gerichtssprecher mit. Die Zustellung an die Verfahrensbeteiligten erfolgten in Kürze. Der Schriftsatz umfasse 3.025 Seiten. Bis ins Detail bewertet der Senat darin juristisch nun die NSU-Terrorserie und die Schuld der Verurteilten.
Mit den nun vorgelegten Urteilsgründen nimmt der Mammutprozess zum NSU-Terror juristisch aber immer noch kein Ende. Denn nun steht den Verteidigern der Weg zur Revision offen. Und den wollen vier der fünf Verurteilten auch einschlagen, unter ihnen auch Beate Zschäpe.
Drei Verurteilte bleiben vorerst frei
Schon am Urteilstag hatten Zschäpes fünf Verteidiger – von denen die 45-Jährige am Ende mit dreien über Kreuz lag – Revision angekündigt. Sie wollten, dass Zschäpe nur wegen der Inbrandsetzung des letzten NSU-Unterschlupfs in Zwickau verurteilt wird. Eine volle Mittäterschaft mit Mundlos und Böhnhardt, wie sie das Gericht sieht, sei nicht nachzuweisen, da Zschäpe an keinem Tatort gewesen sei.
Revision legten zunächst auch die vier Mitverurteilten ein – der frühere NPD-Funktionär Ralf Wohlleben, André Eminger, Holger G. und Carsten S. Sie sollen dem Trio mehrere Pässe, Wohnungen, Wohnmobile oder die Mordwaffe verschafft haben. Carsten S., der Überbringer der Česká-Mordwaffe und als Einziger voll geständig, zog seine Revision später indes zurück und akzeptierte sein Urteil: drei Jahre Haft nach Jugendstrafrecht. Er trat daraufhin bereits im Frühjahr 2019 seine Gefängnisstrafe an. Demnächst könnte er nun bereits wieder entlassen werden, mit Verbüßung der Reststrafe auf Bewährung.
Auch die Bundesanwaltschaft hatte ein Urteil angefochten: das von André Eminger. Der Zwickauer, den selbst seine Verteidiger als „Nationalsozialisten mit Haut und Haaren“ bezeichneten, hielt bis zum Schluss Kontakt zum Trio, er war es auch, der den Terroristen eine Wohnung, Papiere und Wohnmobile beschafft haben soll. Dass er von den Terrortaten wusste, hielt das Gericht dennoch nicht für belegt – und verurteilte Eminger deshalb nur zu zweieinhalb Jahren Haft. Die Bundesanwaltschaft sah das anders und hatte eine zwölfjährige Haftstrafe gefordert.
Für die Begründung ihrer Revisionsanträge haben die Verteidiger nun einen Monat Zeit. Anschließend wird es zu einem mehrmonatigen schriftlichen Verfahren vor dem Bundesgerichtshof kommen, bei der alle Seiten weitere Stellungnahmen einreichen können. Dann entscheidet der Bundesgerichtshof – und könnte das Urteil theoretisch kippen oder eine Revisionshauptverhandlung anberaumen. Dass es dazu kommt, ist allerdings eher unwahrscheinlich.
Die juristische Aufarbeitung des NSU-Terrors bleibt damit aber weiterhin nicht abgeschlossen. Und auch Anklagen gegen weitere NSU-Helfer sind ungewiss. Offiziell ermittelt die Bundesanwaltschaft noch gegen neun mutmaßliche Unterstützer, darunter etwa die Frau von André Eminger. Für Anklagen wollte die Behörde aber vorerst den Abschluss des Münchner Verfahrens abwarten.
Die Verurteilten bleiben derweil – bis auf Beate Zschäpe und Carsten S. – weiter auf freiem Fuß. André Eminger und Ralf Wohlleben zeigten sich zuletzt auch wieder ungeniert in der rechtsextremen Szene. Beide besuchten einen „Zeitzeugenvortrag“, Eminger auch ein Rechtsrockkonzert. Beate Zschäpe sitzt weiterhin in der JVA Chemnitz in Untersuchungshaft.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Kochen für die Familie
Gegessen wird, was auf den Tisch kommt
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Angriffe auf Neonazis in Budapest
Ungarn liefert weiteres Mitglied um Lina E. aus
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker