Urteil zum Sorgerecht: Kümmer-Väter begünstigt
Das Väter-Urteil des Europäischen Gerichtshofs wird vermutlich nur Vätern zugute kommen, die sich heute schon um ihre Kinder kümmern. Die anderen müssen erst ihre Pflichten erfüllen.
BERLIN taz | Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, das ledigen Vätern zu mehr Rechten an ihren Kindern verhelfen soll, wird voraussichtlich nur jenen Vätern zugute kommen, die sich auch tatsächlich um ihre Kinder kümmern.
Auch wenn das Straßburger Urteil erst noch in Deutschland umgesetzt werden muss, scheint schon jetzt klar zu sein, dass Väter, die zwar auf ihre Rechte pochen, aber ihre Pflichten nicht erfüllen, das gemeinsame Sorgerecht höchstwahrscheinlich nicht zugesprochen bekommen.
Auf wenn sie versuchen, die gemeinsame Sorge vor Gericht einzuklagen. Zu diesem Schluss kommen Familienverbände und Familienrechtsexperten. "Es wird vermutlich zu zahlreichen Einzelfallentscheidungen der Gerichte kommen", sagt Christoph Kneif, Anwalt für Familienrecht in Berlin. "Viele Richter werden sehr genau abwägen, welchem Vater sie das gemeinsame Sorgerecht zusprechen oder nicht", sagt Edith Schwab, Bundesvorsitzende des Verbandes alleinerziehender Mütter und Väter.
Vereinfacht gesagt: Männer, die schon heute eine positive Vaterrolle einnehmen, erhalten mehr Rechtssicherheit, und Väter, die sich nicht in dem Maße um ihre Kinder kümmern, wie sie das sollten, bekommen kein Recht zugesprochen, das sie möglicherweise missbrauchen könnten.
Im Alltag ist diese Verfahrensweise längst Praxis. Die deutschen Familiengerichte entscheiden seit 1998, seit mit der Reform des Kindschaftsrechts geschiedenen Eltern automatisch die gemeinsame Sorge zusprochen wird, in einer Fülle solcher Fälle: Expartner streiten darum, ob die Frau mit dem Kind in eine andere Stadt ziehen darf, weil sie dort einen neuen Job hat oder einen neuen Freund. Oder weil sie es dort einfach besser findet.
Ein Vater will, dass seine Tochter auf die Waldorfschule geht, die Mutter zieht eine staatliche Schule vor. Die Waldorfschule kostet Geld, das hat die Mutter nicht, aber der Vater will es auch nicht zahlen. Mutter und Vater leben an verschiedenen Orten, Kita, Schule, Bank, Ärzte wollen aber auf Dokumenten die Unterschrift beider Erziehungsberechtigten.
Fazit: Das gemeinsame Sorgerecht ist dann gut, wenn sich Eltern verstehen und sie gemeinsam alles tun für das Kindeswohl. "Doch dann brauchen Eltern dafür auch kein Gesetz", sagt Edith Schwab. Und die gemeinsame Sorge ist schlecht, wenn sich Eltern uneinig sind. "Dann könnte wieder die berühmte schmutzige Wäsche vor Gericht gewaschen werden", so die Familienrechtsexpertin aus Speyer.
Häufig werden dann zahlreiche Personen bemüht: Jugendamt, AnwältInnen, VerfahrenspflegerInnen. Auch die Kinder, über deren Kopf hinweg verhandelt wird, könnten befragt werden, manche sogar mehrfach. "Im Sinne des Kindeswohls ist das nicht", sagt Edith Schwab. "Kinder geraten bei Trennungen immer in Loyalitätskonflikte", sagt Familienanwalt Christoph Kneif: "Manchmal hilft es aber auch, wenn man sich anhört, was das Kind denkt, und man erfährt, wo es lieber leben will."
"Kinder brauchen Mutter und Vater", sagt Gerhard Amendt. "Viele Paare schaffen es nach einer Trennung nicht, Eltern zu bleiben, weil die gegenseitige Enttäuschung zu groß ist", sagt der Professor am Institut für Geschlechter- und Generationenforschung an der Universtität Bremen. Deshalb plädiert er für eine verpflichtende Mediation, wenn Paare das gemeinsame Sorgerecht beantragen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
FDP-Krise nach „Dday“-Papier
Ex-Justizminister Buschmann wird neuer FDP-Generalsekretär
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Selenskyj bringt Nato-Schutz für Teil der Ukraine ins Gespräch
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Überraschende Wende in Syrien
Stunde null in Aleppo