Urteil zu kurdischem Politiker: Türkei soll Demirtaş freilassen
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte urteilt erneut: Die Haft von Oppositionspolitiker Demirtaş ist unrechtmäßig.
Demirtaş wurde 2007 erstmals ins türkische Parlament gewählt. 2014 trat er der neu gegründeten kurdisch-linken Sammlungspartei HDP bei und wurde sofort zum Ko-Vorsitzenden gewählt. Bei den Präsidentschaftswahlen im selben Jahr erzielte er mit 9,77 Prozent auf dem dritten Rang einen Achtungserfolg. 2015 zog die HDP mit 13,1 Prozent der Stimmen ins türkische Parlament ein; zum ersten Mal hatte eine pro-kurdische Partei die in der Türkei geltende sehr hohe Zehnprozenthürde übersprungen.
Der gutaussehende und rhetorisch gewandte Anwalt Demirtaş, der gemäßigt auftrat und Gewalt ablehnte einschließlich der Gewalt der kurdischen PKK, galt in der Türkei, aber auch im Westen bald als Hoffnungsträger. Gelegentlich wurde er als „türkischer Obama“ bezeichnet. Doch ab Juli 2015 wurde er mit politisch motivierten Strafverfahren überzogen. Im Mai 2016 verlor er nach einer umstrittenen Verfassungsänderung seine parlamentarische Immunität.
Demirtaş Rechte mehrfach verletzt
Im November 2016 wurde er verhaftet und saß seitdem unter verschiedenen Anschuldigungen in Untersuchungshaft. Immer wenn eine Entlassung möglich schien, eröffnete die gelenkte türkische Justiz ein neues Verfahren. Der schwerste Vorwurf lautete auf Mitgliedschaft in der „terroristischen Vereinigung“ PKK. An der türkischen Präsidentschaftswahl 2018 nahm er zwar aus dem Gefängnis heraus teil und landete mit diesmal 8,4 Prozent der Stimmen wieder auf dem dritten Rang. Er ist inzwischen aber nicht mehr Parteichef der HDP.
Nachdem die türkischen Gerichte Dutzende Male seine Anträge auf Haftentlassung abgelehnt hatten, rief er 2017 den EGMR in Straßburg an. Das Gericht des Europarats – dem 47 Staaten inklusive Türkei, Russland und der Schweiz angehören – entschied bereits 2018 in einem ersten Urteil zugunsten von Demirtaş. Gegen die Entscheidung der siebenköpfigen Kammer rief die Türkei jedoch die 17-köpfige Große Kammer an.
Die Große Kammer des EGMR entschied nun, dass die Türkei gleich mehrere Rechte Demirtaş’ verletzt hat, von der Meinungsfreiheit über das Recht auf Freiheit bis zum passiven Wahlrecht. Beanstandet wurden sowohl die Aufhebung der parlamentarischen Immunität, als auch die Untersuchungshaft sowie die gesamte terrorismusbezogene Strafverfolgung.
Die Meinungsfreiheit sei dadurch verletzt, so die RichterInnen, dass sich die Vorwürfe hauptsächlich auf seine politischen und parlamentarischen Reden stützten. Dabei habe er aber übliche politische Kritik an der Regierung geübt. Die Türkei habe keinerlei konkreten Hinweis auf eine Verbindung zur PKK vorlegen können.
Die Richter kamen zum Schluss, dass die Strafverfolgung und Inhaftierung von Demirtaş das Ziel hatten, den gesellschaftlichen Pluralismus zu unterdrücken und die politische Debatte zu behindern. Immerhin war Demirtaş während zweier äußerst wichtiger politischer Ereignisse in Haft: während des Referendums um die Einführung eines Präsidialsystems in der Türkei 2017 und während der nachfolgenden Präsidentschaftswahl 2018.
Die Richter haben keine Zwangsmittel, die Forderung nach sofortiger Freilassung von Demirtaş durchzusetzen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
Pistorius wird nicht SPD-Kanzlerkandidat
Boris Pistorius wählt Olaf Scholz