Urteil gegen Christchurch-Attentäter: Vier aufwühlende Tage
90 Überlebende und Opferangehörige haben vor Gericht ausgesagt. Nach der Verkündung der lebenslangen Haft für den Attentäter brechen sie in Jubel aus.
L auter Applaus und „Allahu Akbar“-Rufe schallen über den Vorplatz. Schilder mit „Aroha“ (Liebe) werden hochgehalten und Lieder zur Gitarre angestimmt. Die Jubelparty in der Nachmittagssonne entsteht spontan, als am Donnerstag rund zweihundert Menschen nach vier hochemotionalen Tagen aus dem Gerichtsgebäude in Christchurch strömen.
Viele umarmen sich und weinen. Einige sind für diesen Tag extra um die halbe Welt geflogen. 17 Monate, nachdem der australische Rechtsextremist Brenton Tarrant im Alleingang zwei Moscheen in Christchurch gestürmt hatte, ist er wegen 51-fachen Mordes, 40-fachen versuchten Mordes und eines Terroranschlags zu „lebenslänglich“ ohne eine Chance auf Bewährung vor seinem Tod verurteilt worden.
Auch Premierministerin Jacinda Ardern reagiert darauf sofort. „Es gibt mir Erleichterung zu wissen, dass diese Person nie mehr das Tageslicht sehen wird“, sagt Ardern im Radiosender RNZ nach dem Urteil – ein Echo der Stimmen vor dem Gerichtsgebäude. Ein solch hohes Strafmaß, erstmalig unter dem „Terrorism Suppression Act“ von 2020 verhängt, hat es bisher in Neuseeland nicht gegeben. Richter Cameron Mander sagte zuvor, die Tat sei inhuman und gnadenlos gewesen und habe Neuseelands friedliche multikulturelle Vielfalt im Kern angegriffen.
Die Erleichterung nach dem Urteil ist auch deshalb groß, weil der Extremist keine Plattform für seine faschistische Ideologie bekommen hat und sich nicht zu inszenieren versucht hat. Statt einer abschließenden Äußerung sagt Tarrant nur knapp „no, thank you“. In den Stunden vor dem Urteil hört er unbewegt zu, als der Richter ihn als narzisstisch bezeichnet, von Rassismus, Hass und Übermenschentum getrieben.
Trauer und Wut, aber auch Verzeihen
Obwohl Tarrant im Polizeiverhör über seine Tat geprahlt hat, gab er später an, sich vom Nazi-Gedankengut abgewandt zu haben. Er sei „tief unglücklich gewesen“, in einem „vergifteten emotionalen Zustand“. Angebliche Depressionen kann der Richter aufgrund der ihm vorliegenden psychologischen Äußerungen aber nicht bestätigen. „Sie sind eine zutiefst unempathische Person“, ist sein Fazit.
Ob der Mörder ihres Sohnes Reue spürt oder in der Haft tatsächlich einen Sinneswandel vollzogen hat – das alles interessiert Noraini Milne an diesem Donnerstagnachmittag nicht mehr. „Er ist für mich gestorben. Es geht nicht um ihn.“ Milne hat sich für diesen Tag einen zitronengelben Hidschab angelegt – die Lieblingsfarbe von ihrem Sohn Sayyad, ein Geschenk seines Sportvereins. Der 14-jährige Schüler aus Christchurch war am 15. März 2019 in der Al-Nur-Moschee erschossen worden. „Es ist vorbei“, sagt Milne hinter ihrer Brille und lächelt in die Sonne. „Wir müssen weiterleben.“
Das viertägige Verfahren begann im Nieselregen und mit bewaffneten Polizisten an jeder Ecke. Düsterheit und Anspannung mischten sich mit der Trauer und Angst, die 230 Menschen – einige mit Krücken oder im Rollstuhl – mit in das streng gesicherte Gerichtsgebäude brachten. Da der Täter sich im März schuldig bekannt hatte, kam es nicht mehr zum Hauptverfahren. Selbst wenn er nicht nur sich selbst, sondern seinen Opfern einen langwierigen Prozess ersparen wollte – als mildernder Umstand reichte das späte Geständnis jedoch nicht aus. Reue hat er keine gezeigt.
Überlebende und Angehörige konnten vor dem Urteil ihre „victim impact statements“ vortragen, um Zeugnis darüber abzulegen, was die Tat mit ihnen gemacht hat. So wie Yama Nabi. Am Montagmorgen läuft der Mann aus Afghanistan an den Wartenden in der Sicherheitsschlange entlang, einen vertrockneten Blumenstrauß in der Hand, Tränen in den Augen. Nabi ist seit 17 Monaten psychisch so sehr geschädigt, dass er nicht mehr in seinem Beruf – er ist Schlachter – arbeiten kann. Zu viel Blut. Er sah das Massaker im Livestream auf Facebook, während er auf die goldene Kuppel der Al-Nur-Moschee am Rand des Botanischen Gartens zulief.
Dort stand sein 71-jähriger Vater in der Tür, als Tarrant am Mittag des 15. März 2019 mit Gewehren, Bajonett, kugelsicherer Weste und einer Go-Pro-Kamera am Helm aus seinem Auto stieg. Das Freitagsgebet hatte begonnen, 190 Menschen befanden sich in der Al-Nur-Moschee. Der alte Mann im Kaftan begrüßte den 29-Jährigen in Kampfmontur freundlich mit „hello brother!“. Kurz darauf wurde auch Haji Daoud-Nabi von dem Fanatiker erschossen, der das Massaker in zwei Moscheen akribisch im Alleingang geplant und eine weitere im Visier hatte.
19 Minuten dauerte der erste Terroranschlag und schwärzeste Moment in Neuseelands Geschichte. Der islamophobe Hass, der ihn auslöste, wurde durch das „Great Replacement“-Manifest untermauert, das der White Supremacist zum Auftakt an eine extremistische Webseite und Medienorganisationen schickte.
Nicht nur die friedliche Gemeinschaft der rund 50.000 Muslime und Flüchtlinge im Fünf-Millionen-Staat war im Schock, auch die gesamte Welt. Neben den 50 Betenden, die an dem schwarzen Freitag gezielt hingerichtet wurden – darunter zwei Teenager und ein Dreijähriger, der sich ans Bein seines Vaters klammerte –, wurden 40 weitere Menschen verletzt und verkrüppelt, einer starb nach 17 Operationen und wochenlangem Koma.
Etliche Augenzeugen und Angehörige wie Yama Nabi wurden traumatisiert. Ihre Stimmen waren in dieser Woche im Obersten Gerichtshof in Christchurch zu hören. Von den 220 Opfer-Berichten aus der muslimischen Community sollten 66 vorgetragen werden. Am Ende wurden es 90 – ein aufgestauter Vulkan an Emotionen, der sich entlud.
Premierministerin trauert im Hidschab
Auf das Einwickelpapier der Blumen, die Nabi den Journalisten am ersten Tag hinhält, hat er in Großbuchstaben „Wanted: dead“ geschrieben. Eine verzweifelte Geste, denn wie etliche der Überlebenden will er die Todesstrafe für den Australier, der in dieser Woche erstmals wieder – mit einer Militärmaschine eingeflogen – in der Stadt seines rassistischen Amoklaufs weilt. Der verwelkte Strauß in Nabis Faust erinnert an das Meer der Blumen, die wochenlang entlang des Botanischen Gartens lagen als Ausdruck der einzigartigen Anteilnahme. Premierministerin Ardern änderte das Waffengesetz und trug einen Hidschab, als sie Trauernde tröstete. Sie schwor, den Namen des Täters nie mehr zu nennen.
Seine Opfer hören ihn in dieser Woche mehrmals täglich, wenn der Richter den abgemagerten, blassen Mann im grauen Jogginganzug bittet, aufzustehen und abzutreten. Erstmals sehen sie in Saal 12 den Massenmörder im Glaskasten vor sich, stets von vier Beamten umringt. Er vertritt sich selbst, seine Anwälte hat er im Juli überraschend entlassen. Wegen strenger Covid-Bestimmungen verteilen sich die anwesenden Familien auf sieben Räume mit Bildschirmen. 300 weitere Betroffene in 15 Ländern verfolgen die Verhandlung per Live-Übertragung.
Die erste Stunde ist für die Anwesenden schwer auszuhalten. Im Detail rekonstruiert die Staatsanwaltschaft, mit welchem Ausmaß an Kaltblütigkeit Tarrant vorging und wen er wie traf, Schuss für Schuss – ein Marathon an gezielter Brutalität, über Monate akribisch mit Drohnenflügen und Lageplänen geplant. Es gab Helden, die sich ihm in den Weg stellten, und Verletzte, die Sterbende hielten. Etliche von ihnen sitzen nun im Gericht. Tarrant hört sich die Zeitlupenversion des Horrors unbewegt an, die Mundwinkel meist nach unten gezogen, der Blick ins Leere.
Der Imam der Al-Nur-Moschee macht den Anfang und schildert die Stunden und Tage nach dem Anschlag – das Chaos der Identifizierungen, die Waschungen der unzähligen Leichen, der Schmerz in den Augen der Kinder. Seine Botschaft, wie damals die seiner gesamten Gemeinde, ist Frieden. „Ihr Hass ist nicht notwendig“, sagt Gamal Fouda und schaut den Täter an, den er als „irregeleitet“ und „brainwashed“ bezeichnet. Er findet sogar Worte für dessen Familie in Australien: „Sie haben einen Sohn verloren. Wir haben auch viele aus unserer Gemeinschaft verloren. Ich respektiere Sie, weil Sie leiden wie wir.“
„Ich weine viel“
Foudas gemäßigter Ton kippt bereits mit der nächsten Sprecherin in tiefe Tragik um. Muhubo Ali Jama aus Somalia, die vor ihrer Ankunft neun Jahre in einem Flüchtlingscamp verbrachte, versteckte sich mit anderen Frauen in einem Schrank in der Moschee, als das Massaker begann. Sie sah Tote übereinander liegen und fand ihren Mann erschossen auf dem Parkplatz. Sie und ihre Brüder können nicht mehr schlafen, einer wandert immer nachts durchs Haus. Laute Geräusche machen ihr Angst. „Ich habe meine Unabhängigkeit verloren“, sagt sie in einer Video-Aufzeichnung.
Die zweite Aufzeichnung beschreibt ähnliche posttraumatische Störungen: Das „Ratatatat“ der Schüsse sei nie mehr aus dem Kopf zu kriegen, Schlafen auch mit Medikamenten kaum möglich. Eine Polizistin liest das Statement eines Flüchtlings vor, dessen Haus in Afghanistan zerbombt wurde – „Neuseeland war ein sicheres Land für mich.“ Taj Mohammed Kamran wurde beim Freitagsgebet dreimal ins Bein getroffen, vor ihm starb sein bester Freund.
Sein Leben sei seitdem keins mehr, sagt er. Beim Begräbnis saß er noch im Rollstuhl, niemand konnte ihm ein Taxi bezahlen. Sein Körper schmerzt ständig. Kamran hat Nervenschäden und läuft am Stock. „Ich weine viel. Es ist sehr schwer für mich. Ich bin wütend, und ich kann nicht mehr in die Moschee gehen.“ Hunderte Schrapnell-Splitter stecken in seinem Körper und können nicht mehr entfernt werden. Wie vielen der Verletzten droht ihm eine schleichende Bleivergiftung.
Der Verlust von geliebten Menschen, Sicherheit, Lebensfreude zieht sich wie ein Leitmotiv durch die quälenden Aussagen. Die kollektive Depression im Gerichtssaal ist spürbar. Tränen fließen, Zitate aus dem Koran werden verlesen. Eine Mutter beschreibt ihre Angst davor, dass ihre kleine Tochter eines Tages das zensierte Video sieht, auf dem der Vater schreiend unter Schüssen zusammenbricht. „Wir werden mit diesem unbeschreiblichen Schmerz leben müssen“, sagt sie.
Nach der Mittagspause am ersten Tag, in der der Imam und seine Glaubensbrüder in Gebetsräumen verschwinden, kommt es zu einer bewegenden Geste. Janna Ezat, die ihren Sohn Hussein verlor und seine Leiche sechs Tage nach dem Mord an ihrem Geburtstag ausgehändigt bekam, vergibt dem Terroristen. „Ich habe keinen Hass. Ich habe keine Rache,“ sagt sie, zu ihm hingedreht. Er schaut ihr ebenfalls ins Gesicht. „Ich vergebe Ihnen“, wiederholt Ezat mehrmals. Es ist das erste und letzte Mal, dass der Anflug einer Reaktion über Tarrants Gesicht huscht.
„Er tut mir leid“
Die zierliche Kalligrafin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten steht danach auf dem Flur und sagt, dass sie eine direkte Verbindung zu ihm gespürt habe. „Ich wollte ihm Menschlichkeit zeigen. Er tut mir leid.“ Um sie herum wallen jedoch andere Gefühle auf. Bader Dokhan, ein kräftiger Mann mit Palästinensertuch, brodelt innerlich. „Uns war nicht klar, dass wir unser Leiden vor ihm ausbreiten und ihn das komplett kalt lässt“, entfährt es ihm. „Das wollen wir ihm nicht geben. Viele von uns ändern jetzt ihre Statements.“ Seine Schwester erlitt zwei Herzinfarkte, nachdem ihr Mann erschossen wurde.
Dieser Wandel ist am nächsten Tag offensichtlich. Mirwais Waziri aus Afghanistan weicht als Erster von seinem vorgefertigten Text ab. In einem Anflug von Sarkasmus dankt er Brenton Tarrant – weil dieser der Welt gezeigt habe, wer wirklich ein Terrorist sei. „Sie haben dieses Wort von mir genommen und der Welt gezeigt, dass nicht ich und nicht Moslems Terroristen sind“, bricht es aus dem Geschäftsmann heraus. „Terrorismus hat keine Rasse oder Hautfarbe.“ Es gibt spontanen Applaus im Saal.
Ab dann richten sich mehr Opfer direkt an den Angeklagten. Wut und Frustration brechen sich Bahn. „Monster“, „Feigling“, „Verlierer“, „Teufel“, „Tier“ wird er genannt, in seiner Zelle oder der Hölle solle er verrotten. Der Richter lässt sämtliche Ausdrücke durchgehen. Der Beschuldigte schaut mal mehr, mal weniger interessiert auf seine Ankläger. Die Meinungen auf dem Flur sind einhellig, als sich die Türen zur nächsten Pause öffneten: „Gelangweilt“ wirke er. Ein Psychopath, unbelehrbar. Gegrinst habe er, als er das Wort „Loser“ hört.
Wasseim Alsati, eines der prominentesten Opfer des 15. März, hat im Vorfeld der Gerichtsverhandlung Schlagzeilen gemacht: Seine jüngste Tochter, die mit ihren vier Jahren nur knapp überlebte und monatelang mit schweren Hirnschäden im Krankenhaus lag, sollte ebenfalls ein „victim impact statement“ vortragen. Das hat es in einem neuseeländischen Gericht noch nie gegeben. Doch der Barbier aus Jordanien entscheidet sich am Dienstag spontan dagegen. Alsatis Begründung: „Er verdient es nicht, meinen Engel zu sehen.“
Aus London angereist
Am dritten Tag kommen spontan zwei Dutzend neue Aussagen dazu. Es ist, als ob sich ein Ventil entlade. John Milne, der christliche Vater des ermordeten Teenagers Sayyad, reicht dem Angeklagten am Ende ein Kinderfoto seines Sohnes. Auch Hasmine Mohamedhosen aus Mauritius hat ein Foto dabei. Das vergrößerte Porträt ihres ermordeten Bruders hält sie stets auf dem Schoß. Sie ist aus London nach Christchurch geflogen und hat zwei Wochen strenge Quarantäne auf sich genommen.
Am Donnerstag dann hält sie eine weiße Rose fest, als sie zwischen einem Dutzend verhüllter Witwen im Hauptsaal sitzt. Wie versteinert, teils mit Kopfhörern für die Simultanübersetzung über dem Kopftuch, hören sie Richter Mander zu, als er zwei Stunden lang seine Entscheidung für die höchstmögliche Strafe begründet. „Der schwere und zersetzende Effekt dieses Traumas und das anhaltende Leid gehen tief. Manche sind zerstört von dem, was sie durchgemacht haben, und ihr Leben ist für immer verändert.“ Seine letzten Worte richtet der Richter an die muslimische Gemeinschaft in Christchurch: „Ich wünsche Ihnen Frieden und Freude.“
Hasmine Mohamedhosen nimmt ihre Blume und das Foto ihres Bruders und folgt den anderen Frauen aus dem Saal. „Ich fühle nichts,“ sagt sie, während draußen auf der Straße vor dem Gerichtsgebäude bereits Musik und Jubel zu hören ist. „Ich bin wie taub.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Verkehrsvorbild in den USA
Ein Tempolimit ist möglich, zeigt New York City
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich