: Urkal spricht wieder
Außer ihm schaffte es nur Muhammad Ali, einen Kampf mit gebrochenem Kinn zu beenden. Nun träumt der Kreuzberger Boxprofi Oktay Urkal von WM-Kämpfen unter den Fittichen von Don King
von MARKUS VÖLKER
Im Kiefer wütet die Hölle. Sprechen ist mühsam. An Kauen nicht zu denken. Über ein Trinkröhrchen zutzelt Oktay Urkal Flüssignahrung. Normal, denkt er sich – die Schmerzen legen sich bestimmt wieder. Doch weil sie stärker werden, bringt ihn ein Freund ins Krankenhaus. Dort operieren die Chirurgen sofort. Mehr als drei Tage hat Urkal mit gebrochenem Kinn zugebracht nach dem Kampf gegen den Russen Kostya Tszyu.
72 Stunden vorher hatten sich die beiden Boxer im US-Bundesstaat Connecticut gegenüber gestanden. Es ging um den WBC-Gürtel im Superleichtgewicht. Drei Runden vor dem Ende des Weltmeisterschaftskampfes knackte es. Urkal spürte einen dumpfen Schmerz, der bei jedem neuen Treffer explodierte. „Es war so, als ob dir einer mit einem Golfschläger ins Gesicht haut.“ Aber Urkal hielt nicht nur bis zur 12. Runde durch. Er gewann sogar die letzten zwei. Punktrichter und Zuschauer honorierten seine Leidensfähigkeit. Doch es reichte nicht. Tszyu gewann mit 3:0-Stimmen.
Urkal ist tief enttäuscht. Nach dem Krankenhausaufenthalt im Juli 2001 reist er der Familie in die Türkei nach. Sie ist normalerweise in Berlin-Kreuzberg zu Hause. Doch die Mutter sollte den leidenden Oktay nicht zu Gesicht bekommen. „Es ist nicht gut, wenn Frauen so was sehen“, sagt Urkal. In Istanbul wurde der Kampf nicht übertragen. Ayse Urkal konnte nur erahnen, was mit dem Sohn in Übersee geschah.
In der Türkei legt Urkal neun Kilo zu. Es sieht nicht gut aus. Der Traum von der WM ist geplatzt. Den EM-Titel hat er wegen des WM-Kampfes niederlegen müssen. Sein Boxstall Universum lässt ihn hängen. Die Zukunftsaussicht scheint verbarrikadiert. Manchmal bewegt er einen Punchingball oder lässt ein Springseil über seinen Kopf schnurren, um sich abzulenken. Als ihn ein Stallkollege bittet, etwas Sparring zu machen, sagt Urkal spontan zu. Untrainiert, wie er ist, bietet er dem topfiten Stephan Trabant Paroli. „Sie können zweimal raten, wer der Bessere von uns war.“ Urkal natürlich.
Er schöpft neuen Mut. Denn der Fight in den USA hat ihm Respekt verschafft. Sein Durchhaltevermögen, der verbissene Wille, sich gegen den Schmerz zu stemmen, hinterließen Eindruck.
Auch Don King („My hair is my PR-agent“) hat den Kampf gesehen und die Kommentare gelesen, die Urkals „fuchtelnden Stil“ durchaus loben. King habe von seinem Kampf geschwärmt und ihm angeblich sogar zwei Kämpfe angeboten. „Das ist kein PR-Gag“, versichert Urkal. „Dass da was dran ist und was vielleicht auch nicht, kann ich beweisen.“ Dazu veranstaltet er eine Pressekonferenz.
Sein Übergewicht beträgt nur noch zwei magere Kilos, als er in der Berliner Discothek „Palace“ vergangenen Mittwoch verkündet, er habe unterschrieben – allerdings bei Sauerland. Das Angebot von Don King liege vor, aber die Verhandlungen seien ins Stocken geraten. Sauerland biete drei Kämpfe unter Regie der ARD. Anfang März wird Urkal in Frankfurt/Oder wieder in den Ring steigen. Ein Aufbaukampf über acht Runden ist geplant. Gesucht: ein Gegner. Zusätzlich zum ARD/Sauerland-Deal kann er drei weitere Kämpfe mit Promotern seiner Wahl vereinbaren. Don King ist die erste Option. Auszuschließen ist hingegen Universum, Sauerlands Konkurrent. Dort war Urkal fünf Jahre unter Vertrag.
„Die haben mich zappeln lassen“, sagt der 32-jährige Profi im ranzigen Alpenstübchen der Disco. „Die haben bestimmt gedacht, dass ich wieder angebettelt komme. Kohl hat mich fünf Jahre erduldet, ich habe nur gute Leistungen gebracht, aber offenbar hat er nicht gemerkt, wie gut ich bin.“
Der Streit zwischen ihm und Universum schwelte schon über Monate lang. Es ging ums Geld. „Universum hat versucht, mich runterzumachen“, glaubt Urkal. Er habe nicht mehr „zu denen“ zurückgekonnt, „vielleicht hätten die mich ja noch aus Spaß verlieren lassen“. Tatsächlich ließ Universum die Muskeln spielen, als man ihm vor Jahresfrist einen unerwartet starken Boxer in den Ring stellte. Gegen den Ugander Franco Ogentho verteidigte er seinen EM-Gürtel nur mit großer Mühe und unter Beistand der Punktrichter.
Der Kontrakt mit Sauerland bietet dem Tischlersohn immerhin die finanzielle Sicherheit, die dem Profiboxer ohne Schulabschluss und Berufsausbildung so wichtig ist. „Für mich ist es egal, gegen wen ich boxe, entscheidend ist das Geld. Boxen ist kein Hobby, es ist Geschäft.“ Urkal gibt das offen zu.
Es ist freilich viel leichter, über das Einmaleins des Boxbusiness zu reden, als über den Schlagtakt des eigenen Löwenherzens. Es dringt kaum durch, dass er seine WM-Handschuhe für die Krebsstation der Charité gespendet hat und auch bei der „Kampagne gegen Männergewalt“ dabei ist, worüber die türkischen Goldketten-Desperados in seinem Umfeld ein wenig spötteln. Aber Oktay Urkal geht seinen Weg, auf dem er mit wechselndem Erfolg Protz und Prahlerei abschüttelt. „Wir haben viel an meiner Überheblichkeit gearbeitet“, sagt der Olympiazweite von Atlanta. Und: „Ich komm jetzt mit allen zurecht, ich pass mich an.“
Als die Ärzte Urkals Kiefer gerichtet hatten, blickte er zuerst in die Augen von Jürgen Mayer, seinem Trainer aus Amateurzeiten, der sich nun wieder um ihn kümmert. „Er ist ein absolut fleißiger Mensch im Boxen“, hält er seinem Schützling zugute, wenngleich man „die Bewegungsketten jetzt erst wieder zusammenfügen muss“. Sie üben im Landesleistungszentrum Berlin. Dort ist er der einzige Profi. Sobald Oktay Urkal loslegt, haften die Blicke an ihm. „Wenn er sich reinkniet, blitzen die Augen der Amateure“, hat der Trainer beobachtet.
An der Sache mit dem großen Don King scheint jedoch was dran gewesen zu sein. Eva Rolle von der International Fight Club Organisation (IFCO) – der geschraubte Name verweist lediglich auf einen Boxstall in Oberschöneweide – will mit dem Promoter von Muhammad Ali und Mike Tyson gesprochen haben. „Warum mit Schmidtchen verhandeln, wenn man es auch mit Schmidt kann?“
Urkal war der Ausgang der Verhandlungen jedoch zu ungewiss, zumal der Part Rolles, die zum erweiterten Rocchigiani-Clan zählt, äußerst verschwommen bleibt. Weil Urkal nicht warten wollte und zu Sauerland ging, giftet die IFCO nun: „Das ist das erste ernsthafte Interesse von King an einem deutschen Boxer, es ist ein kleines, nettes Frühbeet bestellt, das wollen wir uns nicht zertrampeln lassen.“
„Ich bin gut drauf“, sagt Oktay Urkal derzeit jedem, der es hören will. Sein Kinn ist wieder heil. Den Kieferbruch hat er übrigens mit seinem Vorbild Muhammad Ali gemein. Nur die große Boxlegende und der kleine „Cassius von Kreuzberg“ schafften es, mit solch einer Verletzung einen Kampf zu beenden. Die Duplizität der Ereignisse könnte Don King interessieren. Sie ließe sich gut verkaufen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen