Unterwegs mit der Familie im Grünen: Deutschland sucht den Super-Idioten

Wer das Gefühl hat, andere verhalten sich falsch, macht gerne mal ein Foto und postet es in den sozialen Medien. Das ist fast nie eine gute Idee.

Ein Pärchen sitzt eng umschlungen in einem Park

Auch mal raus: am Wochenende im Treptower Park Foto: Paul Zinken/dpa

Wir waren am Samstag kurz im Plänterwald. Fahrrad rausgeholt, Anhänger ran, Kinder rein, Proteste ignorieren („Nein, ihr dürft nichts gucken jetzt!!“). Wir sind durch den Wald geradelt, haben uns den stillgelegten Freizeitpark angeschaut und dann wollte ich ein Stück an der Spree entlangfahren. Keine Chance. War so voll, da wäre ich mit dem Anhänger kaum durchgekommen.

Und was macht man dieser Tage in so einer Situation? Genau, Handy aus der Tasche, Foto gemacht und bei Twitter gepostet. Natürlich mit Kommentar, wie dumm doch alle seien. Fertig ist der 300-Likes-Tweet.

Nein. Selbstverständlich habe ich das NICHT gemacht.

Denn wieso sollte ich – erstens – Menschen dafür verurteilen, dass sie zur selben Zeit wie ich am selben Ort auftauchen? Zweitens müssen wir halt alle mal vor die Tür. Was sollen die Eltern in der Zwei- oder Dreizimmerwohnung denn sonst mit den Kindern anstellen?

Drittens würde mein Foto gar nichts aussagen. Gar nichts.

Die Geschichte von Molly Lensing

Es gibt da diese Geschichte von Molly Lensing, die am Flughafen fotografiert wurde (ohne ihr Einverständnis): Sie sitzt auf einer Bank, schaut auf ihr Handy, vor ihr auf dem Boden liegt ihr wenige Monate altes Baby. Das Foto wurde 2016 aufgenommen. Es kursiert bis heute auf Facebook – mit verschiedenen Begleittexten, die aber immer auf das Gleiche hinauslaufen: Rabenmutter! Handy wichtiger als Baby!

Die Geschichte hinter dem Foto ist allerdings eine andere: Lensing wollte nach Hause fliegen. Doch bei Delta Airlines fiel das Computersystem aus. 20 Stunden verbrachte sie insgesamt am Flughafen. Sie musste ihre Tochter einfach mal ablegen, um ihre Familie zu informieren. Mit dem Handy. So hat sie es Today erzählt.

Dieses Alle-anderen-sind-Idioten-Narrativ (Lehrer*innen, Spaziergänger*innen, Eltern, der Typ mit dem Klopapier unterm Arm, und so weiter) geht mir gerade wahnsinnig auf die Nerven.

Es gibt zu jeder Story mehr als die eine Seite, die uns bei Twitter, Facebook oder sonst wo präsentiert wird. Was weiß ich denn, ob diese Menschen, die an der Spree entlangliefen, nicht alle sehr bald nach Hause gegangen sind?

Andere herabsetzen ist nicht die Lösung

Ja, viele sind überfordert. Die Ungewissheit, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird, kann einen wahnsinnig machen, wie den Seefahrer auf hoher See, der über Tage und Wochen vorne und hinten und links und rechts nichts anderes sieht als das Meer. Der kein Ende erkennen mag. Keinen Sinn.

Wir sollten unsere Überforderung nicht in das Anpissen anderer verwandeln. Wir sollten dem Drang widerstehen, andere herabzusetzen, in der Hoffnung, die eigene Selbstzufriedenheit zu steigern. Bitte.

Ich bin dann übrigens an der Spree umgedreht und wieder in den Wald gefahren. Da war genug Platz, um mit den Kindern zu spielen. Ich bekam eine Leine in die Gürtelschlaufen und musste das Pferd sein. Hüa, Amadeus!

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Ist heute: Redaktionsleiter bei Übermedien und freier Autor. War mal: Leiter des Ressorts tazzwei bei der taz. Davor: Journalistik und Politikwissenschaft in Leipzig studiert. Dazwischen: Gelernt an der Axel Springer Akademie in Berlin.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.