Unterwegs mit der Familie im Grünen: Deutschland sucht den Super-Idioten
Wer das Gefühl hat, andere verhalten sich falsch, macht gerne mal ein Foto und postet es in den sozialen Medien. Das ist fast nie eine gute Idee.
W ir waren am Samstag kurz im Plänterwald. Fahrrad rausgeholt, Anhänger ran, Kinder rein, Proteste ignorieren („Nein, ihr dürft nichts gucken jetzt!!“). Wir sind durch den Wald geradelt, haben uns den stillgelegten Freizeitpark angeschaut und dann wollte ich ein Stück an der Spree entlangfahren. Keine Chance. War so voll, da wäre ich mit dem Anhänger kaum durchgekommen.
Und was macht man dieser Tage in so einer Situation? Genau, Handy aus der Tasche, Foto gemacht und bei Twitter gepostet. Natürlich mit Kommentar, wie dumm doch alle seien. Fertig ist der 300-Likes-Tweet.
Nein. Selbstverständlich habe ich das NICHT gemacht.
Denn wieso sollte ich – erstens – Menschen dafür verurteilen, dass sie zur selben Zeit wie ich am selben Ort auftauchen? Zweitens müssen wir halt alle mal vor die Tür. Was sollen die Eltern in der Zwei- oder Dreizimmerwohnung denn sonst mit den Kindern anstellen?
Drittens würde mein Foto gar nichts aussagen. Gar nichts.
Die Geschichte von Molly Lensing
Es gibt da diese Geschichte von Molly Lensing, die am Flughafen fotografiert wurde (ohne ihr Einverständnis): Sie sitzt auf einer Bank, schaut auf ihr Handy, vor ihr auf dem Boden liegt ihr wenige Monate altes Baby. Das Foto wurde 2016 aufgenommen. Es kursiert bis heute auf Facebook – mit verschiedenen Begleittexten, die aber immer auf das Gleiche hinauslaufen: Rabenmutter! Handy wichtiger als Baby!
Die Geschichte hinter dem Foto ist allerdings eine andere: Lensing wollte nach Hause fliegen. Doch bei Delta Airlines fiel das Computersystem aus. 20 Stunden verbrachte sie insgesamt am Flughafen. Sie musste ihre Tochter einfach mal ablegen, um ihre Familie zu informieren. Mit dem Handy. So hat sie es Today erzählt.
Dieses Alle-anderen-sind-Idioten-Narrativ (Lehrer*innen, Spaziergänger*innen, Eltern, der Typ mit dem Klopapier unterm Arm, und so weiter) geht mir gerade wahnsinnig auf die Nerven.
Es gibt zu jeder Story mehr als die eine Seite, die uns bei Twitter, Facebook oder sonst wo präsentiert wird. Was weiß ich denn, ob diese Menschen, die an der Spree entlangliefen, nicht alle sehr bald nach Hause gegangen sind?
Andere herabsetzen ist nicht die Lösung
Ja, viele sind überfordert. Die Ungewissheit, wie lange dieser Zustand noch anhalten wird, kann einen wahnsinnig machen, wie den Seefahrer auf hoher See, der über Tage und Wochen vorne und hinten und links und rechts nichts anderes sieht als das Meer. Der kein Ende erkennen mag. Keinen Sinn.
Wir sollten unsere Überforderung nicht in das Anpissen anderer verwandeln. Wir sollten dem Drang widerstehen, andere herabzusetzen, in der Hoffnung, die eigene Selbstzufriedenheit zu steigern. Bitte.
Ich bin dann übrigens an der Spree umgedreht und wieder in den Wald gefahren. Da war genug Platz, um mit den Kindern zu spielen. Ich bekam eine Leine in die Gürtelschlaufen und musste das Pferd sein. Hüa, Amadeus!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Scholz bezeichnet russischen Raketeneinsatz als „furchtbare Eskalation“
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung