Unterwegs im 13. Pornfilmfestival Berlin: Kuscheln und Quälen
Filme über sexuelle Spielarten jenseits des Penis-fickt-Loch-Schemas dominierten das Programm des Pornfilmfestivals Berlin 2018.
BERLIN taz | Beginnen wir mit einer Sequenz: Eine junge schwarze Frau sitzt in einem Pizza-Laden, sie ist verabredet. Aus der Off-Erzählung erfahren wir, sie hat ein Date mit einem unbekannten Typen. Doch der erscheint nicht. Stattdessen sendet er ihr ein Video aufs Smartphone – er hat sie gefilmt, wie sie da gelangweilt im Restaurant wartet. Panisch verlässt sie den Laden, eilt zu ihrem Auto, um sich in Sicherheit zu bringen. Kaum hat sie die Wagentür geschlossen, legt sich eine Hand von hinten mit einem Tuch um ihren Mund und Nase. Knock-out. Am nächsten Morgen wacht sie in einem baufälligen Keller wieder auf, nackt und gefesselt, an ihrem Hals kitzelt die Klinge eines Messers.
Im Kurzfilm „Sexiigur 1“ verhandeln der US-Filmemacher Meankat und seine Darstellerin, die Performerin Zohara404, binnen 15 Minuten Lauflänge und mit Motiven des Horrorfilmgenres eine eher irritierende Rollenspielfantasie: Entführung und Vergewaltigung. Die Szene im Keller, zunächst in eine bedrohliche Stimmung getaucht, wird sich rasch verändern, die Fesseln fallen, das Messer auch. War der Blowjob noch vorgeblich erzwungen, nimmt sie ein paar Schnitte später lustvoll auf dem Penis ihres maskierten Entführers Platz – und wird einen Moment später das am Boden liegende Messer ergreifen, zustechen und reichlich Filmblut sprudeln lassen. Part of the game.
Zu sehen war „Sexiigur 1“ als Teil der Kurzfilmrolle BDSM-Porn beim Pornfilmfestival Berlin 2018, welches vom 23. bis 28.10.2018 im Kreuzberger Kino Moviemento über die Bühne ging. Seit 13 Jahren unternimmt das Festival nun schon Erkundungen und Erörterungen der endlosen Welten menschlicher Sexualität. Dabei sind die filmischen Formen mindestens so vielgestaltig wie die sexuellen Spielarten, Fetische und Begehrensfragen, welche mehr oder minder explizit auf der Leinwand verhandelt werden.
Offenheit, Leidensfähigkeit und sexpositive Neugierde notwendig
Es gehört zu den großen Qualitäten dieses Festivals, dass seinem Kurator:innen-Team Berührungsängste in beinahe jeglicher Form fremd sind. Was sich inzwischen (leider) auch in der schieren Masse an gezeigten Filmen und Einzelprogrammen ausdrückt. Folglich ist das Publikum gut beraten, eine gewisse Offenheit, Unerschrockenheit, Leidensfähigkeit und unbedingte sexpositive Neugierde mitzubringen. Vor allem aber Mann darf sich vom Begriff Pornfilmfestival nicht irreleiten lassen: Wichsvorlagen a la Pornhub gehören dezidiert nicht zum Programm.
Bondage und Sadomasochismus, Dominanz und Unterwerfung, Fetische und Rollenspiele sind traditionell Schwerpunkte im Programm des Berliner Pornfilmfestivals, doch im Festivaljahrgang 2018 stachen die filmischen Auseinandersetzungen mit den sexuellen Reizbarkeiten jenseits eines Phallus-penetriert-Loch-Schemas besonders hervor. Auffällig war dabei das Interesse an sexuellen Vergnügen in den ausdrücklichen Grenzbereichen des gesellschaftlich gemeinhin noch Gutierbaren.
So lässt etwa der italienische Beitrag „Ki è my papino?“ – nach einer vorangestellten Trigger-Warnung – eine veritable familiäre Missbrauchsfanatsie Realität werden, wenn „Papa“ ins schreiend bunte Mädchenzimmer eintritt und der „Tochter“ zeigt, wie das mit dem Blowjob geht, wie sie sich mit dem Masturbator befriedigen kann und wie sie beim Sex „mit den Jungs“ das Kondom richtig anlegt. Diese acht Minuten kurze und reichlich trashige Irritation – zu sehen in der Kurzfilmrolle BDSM Porn Shorts – wird am Schluss wiederum interessant gewendet, wenn das sexuelle Spiel Mittels Safe Word „Lasagne“ ein Ende findet, die „Tochter“ den „Papa“ bezahlt und er sich rasch verabschiedet, denn der nächste Kunde wartet schon – auf eine Kuscheleinheit.
Könnte Waterboarding eine Form des Kuschelns sein?
Kuscheln ist eine Möglichkeit sich gegenseitig Nähe und Geborgenheit zu vermitteln. Wenn nun aber eine Hand einen Kopf grob an den Haaren packt und mehrere Sekunden lang in einen Eimer Wasser drückt, könnte man dies nicht auch – und ausschließlich im BDSM-Kontext – als eine Art des Kuschelns lesen? In der Berliner Produktion „As You Wish My Lady“, eine visuell äußerst ästhetisch inszenierte Studie sexueller Devianzen in Schwarzweiß und auch Teil der Kurzfilmrolle BDSM Porn Shorts, erleben wir eine solche Waterboarding-Szene.
Die Sexarbeiterin, Performerin und Autorin Sadie Lune gibt in dieser Kooperation mit der Filmemacherin und Fotografin Jo Pollux die betörende Kerkermeisterin. Ihre Sklav:innen aller Geschlechter warten in einem düsteren Keller auf ihre jeweils ganz eigenen Torturen. Darunter eben auch Atemkontrolle durch simuliertes Ertränken – Waterboarding.
Wie kann diese Spielart des BDSM überhaupt funktionieren? Kein Zweifel, ohne absolutes Einvernehmen ist das ausgeschlossen. Doch es braucht, wie sich in „As You Wish My Lady“ eindringlich nachvollziehen lässt, noch mehr: in einer Session müssen die:der Dominierende und die:der Unterworfene durch ein intensives Band des Vertrauens und der Geborgenheit verbunden sein.
Indes, fürs Waterboarding braucht es keinen finsteren Kerker, wie sich im französischen Beitrag „La Cuisine“ erweist. Die Küche eignet sich genauso gut. Die Filmemacherin Carmina beobachtet in „La Cuisine“, Teil des Kurzfilmprogramms Female Porn Shorts, wie ein Hetero-Paar, er in Strapsen, sie nackt, BDSM-Fantasien zwischen Esstisch und Spülbecken auslebt.
Lesbischer Sex ist überall
Dabei kommt neben dem Wasserhahn fast alles zum alles zum Einsatz was ein Küchenschrank hergeben kann – inklusive einem Entsafter als Dildo und Messern, die über die Haut kratzen. Mutet das sexuelle Spiel des Paares auf den ersten Blick reichlich heftig und grenzüberschreitend an, sind in „La Cuisine“ doch stets auch Verspieltheit, Vertrauen und Liebe deutlich spürbar.
Die Küche, jene nicht nur sinnbildliche Heimstätte der Unterdrückung von Frauen seit Ewigkeiten, ist auch in „Second Shutter“, dem zweiten Teil einer filmischen Trilogie der Berliner Filmemacherin Goodyn Green (Teil 1 der Trilogie lief 2014 im Festival), ein Schauplatz sexueller Freuden. Aber dieser Reigen lesbischer Sexualitäten beschränkt sich nicht auf Sex in den eigenen vier Wänden.
Ob auf der Rückbank eines Autos oder im Wald – lesbischer Sex hat überall Platz, lesbischer Sex ist überall. Und wie schon im Vorgänger „Shutter“, beweist die Filmemacherin auch in „Second Shutter“ ihr Gespür für atmosphärisch dichte Bilder. Allerdings, wenn die Sonne dann noch die Körper in magisches Licht taucht, wird der Grad zwischen Schönheit und Kitsch arg schmal.
Mein Metzger und ich
„Du darfst nicht zu freundlich sein mit deinem Metzger. Wenn er dich liebt, dann kann er dich nicht essen.“ In „Protokolle“, einer dokumentarischen Arbeit des Filmemachers und Festivalstammgasts Jan Soldat und zu sehen in der Kurzfilmrolle Dark Visions Porn Shorts, berichten Männer über ihr sexuelles Verlangen verspeist zu werden.
Die Männer selbst sehen wir nicht, wir hören was Jan Soldat in Gesprächen mit den Männern protokolliert hat. Deren nur insgeheim gehegter und trotzdem vielleicht sehnlichster sexueller Wunsch es ist gegessen zu werden. Vor der Kamera sitzen Schauspieler welche diese Protokolle vortragen. Ihre Köpfe können wir nur in Umrissen erkennen, da Jan Soldat ihre Gesichter durch die Ausleuchtung der Szenerie zusätzlich unkenntlich macht.
So sind wir auf das zurückgeworfen, was die Tonspur mitteilt. Wir hören von Männern, die ganz normale Leben führen, verheiratet sind, Kinder haben. Die sich aber auch als Kinder schon seltsam hingezogen fühlten zum Gedanken des Gegessenwerdens. Sie berichten über ihre Kämpfe mit ihren Fantasien, über Rollenspiele von Schlachtvieh und Schlachter, bei welchen sie ihre bisexuellen Neigungen ausleben können, und über die Ängste vor dem Moment des Geschlachtetwerdens. Denn dann erfüllt sich ihr Verlangen und zugleich verlieren sie ihr Leben.
Andererseits, so stellt es sich einer der Protagonisten vor, würde er dann auch eine neue Form des Daseins erlangen, denn der Geschmack seines Fleisches würde seinem Schlachter bis zu dessen Lebensende in Erinnerung bleiben. Jan Soldat gelingt mit „Protokolle“ eine äußerst verstörende und zugleich formal strenge wie durchdachte Erkundung sexueller Abgründe. Und einmal mehr – Jan Soldats Oevre umfasst inzwischen mehr als zwei Dutzend kurze bis mittellange dokumentarische Arbeiten – erweist er sich hier als unerschrockener und vorurteilsfrei agierender Filmemacher, der uns einlädt die Gedankenwelten seiner Protagonist:innen mit ehrlichem Interesse zu erkunden.
Staat vs. Huren
„Wir Huren sind Arschlöcher gewöhnt – in der Politik, am Telefon, per E-Mail, auf der Straße, in der Familie, Arschlöcher begegnen uns überall.“ In ihrem dokumentarischen Kurzfilm „Empower“ berichtet die französische Sexarbeiterin Mylène Juste über die Licht- und Schattenseiten ihres Berufs. „Ich mag es nicht gefilmt zu werden“, erklärt sie, weshalb wir ihre Stimme nur aus dem Off hören. Auf der Leinwand sehen wir eine jener Straßen in Paris, die dem Straßenstrich vorbehalten sind – oder vielmehr vorbehalten waren. Denn in Frankreich hat sich die Situation für Sexarbeiter:innen deutlich verschlechtert, seit der französische Gesetzgeber 2016 die Einführung des sogenannten „Nordischen Modells“ verabschiedete.
Mylene Juste, Sexarbeiterin
Unter dem Vorwand, Frauen vor Ausbeutung und Menschenhandel schützen zu wollen, werden bei dieser staatlichen Vorgehensweise die Kunden der Sexarbeiter:innen kriminalisiert. Sex zu kaufen ist eine Straftat, ganz egal unter welchen Umständen Sexarbeiter:innen ihrer Tätigkeit nachgehen müssen oder möchten. In der Realität hat dieses Gesetz vor allem zur Folge, dass sexarbeitende Menschen (meist Frauen) in den Untergrund gedrängt werden, um die Kunden vor dem Zugriff der Polizei zu schützen. Es braucht wenig Fantasie um zu begreifen, dass dies für zwangsprostituierte Frauen eine weitere Verschlechterung ihrer sowieso schon unhaltbaren Situation darstellt. „Die Kriminalisierung der Freier ist ein Angriff auf uns und uns nicht als Arbeiter:innen anzuerkennen ist ein Akt der Gewalt“, deklamiert Mylène Juste.
Über den Kampf gegen die Einführung des Gesetzes ist sie zur hörbar wütenden politischen Aktivistin geworden. Sie klagt eine Politik an, die glaubt, nach eigenem Gutdünken darüber entscheiden zu können, was Frauen mit ihrem Körper tun dürfen.
„Empower“ lief als Vorfilm der Dokumentation „Everything is Better Than A Hooker“. In der von Arte koproduzierten Arbeit recherchiert die französische Filmemacherin Ovidie den Fall von Eva-Marree Smith Kullander. Am 11. Juli 2013 wurde die 27-jährige Smith Kullander von ihrem Ex-Mann mit 32 Messerstichen eines Brotmessers ermordet – vor den Augen ihrer kleinen Kinder und in den Räumen der schwedischen Fürsorgebehörde.
Vier Jahre zuvor hatte sich Smith Kullander von diesem gewalttätigen und deshalb bereits vorbestraften Mann getrennt, war mit ihren Kindern nach Stockholm gezogen und begann als Escort zu arbeiten. Ihr Job in der Sexarbeit, obwohl sie ihn strikt von ihrem privaten Umfeld abschirmte, veranlasste die Behörden 2009, Eva-Marree die Kinder wegzunehmen und das alleinige Sorgerecht ihrem Ex-Mann zu übertragen.
Schwedens Repression gegen Sexarbeiter:innen
Schweden ist das Mutterland des „Nordischen Modells“ und wird als Paradebeispiel für gelebte Gleichberechtigung gehandelt. Seit 1998 ist dort der Kauf sexueller Dienstleistungen kriminalisiert. Doch wie Ovidie im Verlauf ihrer 56-minütigen Recherche herausarbeitet, sind es auch in Schweden vor allem die sexarbeitenden Frauen die für ihren vorgeblichen Schutz einen hohen Preis zahlen müssen.
Im Gespräch mit Eva-Marees Eltern, mit Anwälten und Aktivist:innen skizziert Ovidie nüchtern die staatliche Repression gegen Sexarbeiter:innen. Das Frauen selbstbestimmt der Prostitution nachgehen könnten scheint für schwedische Behörden offensichtlich nicht vorstellbar. Dass Sexarbeiter:innen gleichzeitig auch noch Mütter sein könnten – ebensowenig. Drei Jahren nach dem Kindesentzug und einem enervierenden Rechtsstreit, ermöglichte die Fürsorge Eva-Marree Smith Kullander schließlich ein Treffen mit ihrem Sohn in den Räumen der Behörde und in Gegenwart ihres Ex-Mannes. Es sollte das letzte Mal sein, dass die Mutter ihr Kind sieht.
Ovidies Dokumentation unterstreicht den inzwischen etablierten Ruf des Pornfilmfestivals als Plattform für die Emanzipationskämpfe von Sexarbeiter:innen. Aber mehr noch markiert er Ovidie unmissverständlich als Filmemacherin mit aktivistischen Furor, was nicht immer gefallen muss. Allerdings erweist sich das Handeln des schwedischen Staates – im speziellen Fall Smith Kullander und allgemein in Fragen der Sexarbeit – als so dermaßen abscheulich, dass neutrale Zurückhaltung auch nicht wirklich angebracht wäre. „Everything is Better Than A Hooker“ ist eine schockierende und wütend machende Schilderung staatlicher Repression gegen Frauen die auf ihr Recht am eigenen Körper bestehen.
Dauervögelnde Sprösslinge des Bürgertums
Im Pornfilmfestival Berlin an den desolaten Zustand des prüden und kunstfeindlichen deutschen Kinomarkts erinnert zu werden kommt selten vor. Das Schicksal des Films „The Smell Of Us“ war solch ein seltener Moment: 2014 feierte der (zweitjüngste) Film der US-Regielegende Larry Clark („Kids“, „Ken Park“) seine Weltpremiere in Venedig.
Es sollte bis 2016 dauern, ehe ein deutscher Verleih die Auswertungsrechte für Deutschland erwarb. Doch der Film landete in keinem deutschen Kino. Er wurde im Frühjahr 2018(!) auf den im Siechtum befindlichen DVD-Markt verklappt. Es ist dem Engagement der Kurator:innen des Pornfilmfestivals zu verdanken, dass „The Smell Of Us“ nun im Programm zu sehen war und damit vermutlich erstmals in einem Kino hierzulande.
Leider wurde dieses Engagement kaum belohnt. Denn Larry Clark gelingt mit „The Smell Of Us“, einer deprimierenden Studie lebensmüder, permanent skatender, dauerbetrunkener und dauervögelnder Sprösslinge des besseren Pariser Bürgertums, nurmehr ein schwaches Echo seines frühen Meisterwerks „Kids“. Trotzdem war es richtig, um die Aufführung dieses Films zu kämpfen, bietet doch selbst ein schwacher Larry Clark immer noch mehr Beschäftigung für den Kopf als vieles was derzeit in deutschen Kinos zu sehen ist.
Quantität contra Qualität
190 Filme aller Längen wurden zwischen dem 23. und 28. Oktober gezeigt. Zum Vergleich, 2017 verzeichnete das Programm „nur“ 143 Werke, 2016 waren es 141 Filme. Quantitativ sind damit fühlbar die Grenzen des auch räumlich Möglichen erreicht. Was problematisch ist vor dem Hintergrund einer sehr durchwachsenen Qualität der Langspielfilme dieses Festivaljahrgangs. So mag der kanadische Regisseur Bruce LaBruce zwar konstitutiv für ein Event wie das Pornfilmfestivals erscheinen, doch sein narrativ leidlich aufgehübschter Episodenfilm „It is not the Pornographer that is perverse“, produziert vom schwulen US-Pornolabel Cockyboys, reanimiert lediglich altbekannte und inzwischen reichlich uninteressante Sujets des Filmemachers.
Als ebenso verzichtbar erwies sich der als Eröffnungsfilm annoncierte argentinische Beitrag „La Hijas Del Fuego“, eine 115-minütige Tour de Force (für die Geduldsfäden des Publikums), die nach der filmischen Rückeroberung weiblicher Lust und Körper vor der Weite der argentinischen Landschaft trachtete. Jedoch nichts zustande brachte außer dem Eindruck, dass zu allererst eine schlüssige Narration hätte erobert werden müssen.
Ähnlich ärgerlich war der Abschlussfilm des Festivals, die deutsche Dokumentation „The Artist & The Pervert“. Darin geben der Komponist Georg Friedrich Haas und seine Frau, die Autorin, Performerin und BDSM-Trainerin Mollena Williams, Einblick in ihre als öffentliche BDSM-Beziehung gelebte Ehe. Das Beste was sich über dieses visuelle und tontechnische Fiasko sagen ließe wäre, dass es den beiden hochgradig spannenden Protagonisten nicht übermäßig im Weg steht.
Rachefabel im #metoo-Zeitalter
Die Großstadterzählung „Lisa“ markierte indes eines der wenigen Spielfilm-Highlights im diesjährigen Programm. Die titelgebende Lisa, eine junge Frau aus der Provinz, lässt sich in Berlin von Partys, Drogen und Rausch treiben bis sie ein Typ mit K.O.-Tropfen betäubt und vergewaltigt. Lisa gelingt die Flucht, doch anschließend führt sie ihr Weg nicht zur Polizei oder irgendwo hin wo sie Hilfe finden könnte. Sie kehrt zurück zum Tatort – und lädt ihren Vergewaltiger zu sich nach hause und zum Abendessen ein.
„Lisa“ erweist sich als im besten Sinne abgründiger Film. Mit Null Budget realisiert, dafür atemberaubend mutig erzählt, inszeniert der Berliner Filmemacher Mario Schollenberger eine Rachefabel im #metoo-Zeitalter. Für Opfernarrative hat diese Lisa keine Zeit, sie sinnt auf Revange, sie ist ihre eigene Richterin und Vollstreckerin. Auch wenn dies bedeutet, dass sie dafür die Schlafcouch zum Kerker umfunktionieren und den Gefangen selber füttern und wickeln muss.
Schollenberger gelingt es, seinen Film virtuos zwischen hell und dunkel, zwischen Leichtigkeit und Beklemmung auszubalancieren. Kein wohl-temperiertes und schon gar kein bedeutungsschweres Erzählen, sondern emotional stets klug und treffend. Lisas Selbstermächtigung ist für sie Ausweg und Ausweglosigkeit zugleich, Befreiung und Zumutung. Der finale Sieg über ihren Peiniger, er wird für sie nicht ohne einen hohen Preis zu haben sein. Doch sie ist bereit, diesen zu bezahlen. Grandios!
Die Legende schwuler Bilderwelten
Andy Warhol fotografierte seinen Arsch, für Robert Mapplethorpe und Tom of Finland war er Inspiration und Muse – Peter Berlin. Seine visuellen Markenzeichen: drahtig-muskulöser Körper, strohblonder Pagenschnitt und selbstverständlich eine unübersehbare Beule in zumeist betont eng sitzenden Hosen.
Seine Bilder sind heute Ikonen der erotischen Fotografie – auch weit über das schwule Metier hinaus. Doch wer ist dieser Peter Berlin (er lebt nachwievor in den USA) und was macht(e) seinen Reiz aus? Das Pornfilmfestival 2018 bot mit der Retrospektive Anlass für eigene Recherchen in den Bewegtbildern von Peter Berlin. Schnell wird deutlich: Peter Berlin war kein austauschbares Pin-Up zur schnellen Triebabfuhr. Er, der gelernte Fotograf, verstand es die eigenen Bilder bis ins kleinste Detail zu kontrollieren. Und seinen Körper dabei wirkmächtig zu inszenieren.
1942 in Polen geboren und in Berlin aufgewachsen, wanderte Armin Hagen Freiherr von Hoyningen-Huene Anfang der 1970er in die USA aus und entwarf alsbald die Kunstfigur Peter Berlin. Berlins Oeuvre umfasst zwei Porno-Spielfilme und vier pornographische Kurzfilme, alle zwischen 1972 und 1975 realisiert, allesamt Teil der Retrospektive. Dieses überschaubare und aus heutiger Sicht phasenweise etwas drollige Werk reichte erstaunlicherweise aus, um ihn zum Säulenheiligen schwuler Bilderwelten werden zu lassen.
Doch wohl möglich lag Peter Berlins Erfolg vor allem in der Einzigartigkeit des Moments begründet, zu welchem er die Bühne betrat: Anfang der 1970er war er so jung, schön und viril wie die schwule Community (der USA) selbst. Lust und Sex explodierten, kaum das mit den Stonewall Riots und der Hippie-Bewegung die Repression des Sexuellen zurückgedrängt war und das Golden Age of Porn abertausende Menschen in die Kinos zog.
Aggressive Aufforderung zum Begehren
In jene Zeit platze dieser Typ aus dem fernen, etwas exotisch anmutenden Berlin und wurde vielleicht zu so etwas wie dem Spiegelbild des schwulen Amerikas. Peter Berlins Filme transportieren eine fast schon aggressive Aufforderung zum Begehren und zeugen von einer immensen Lust an der sexuellen Ausstellung des Körpers. Dies muss enorm räsoniert haben in einer Community, deren (sexuelle) Möglichkeiten endlich grenzenlos schienen.
Und dann passierte, was aus dem Rising Star die Legende werden ließ: Peter Berlin war plötzlich weg. Nach 1975 verschwand er komplett aus der Öffentlichkeit. Keine Filme mehr, nichts. Warum? Empfand er sich nicht mehr als passend für die visuellen Codes, die er selbst gesetzt hatte? Hatte er den sexuellen Kick des Pornodrehens einfach abgehakt? An Geld schien er, wie er bekundete, nie sonderlich interessiert gewesen zu sein. Das Interesse an der Kommunikation über Bewegtbild übte da wohl schon eine größer Anziehungskraft aus, wie die ebenfalls in der Retrospektive gezeigte Dokumentation „The Peter Berlin Chronicles – Foursome“ veranschaulichte, die ausschließlich auf den zahlreichen Videotagebüchern von Peter Berlin basiert.
Möglicherweise war es eine Mischung aus all dem. Fakt ist, dass ihn die AIDS-Krise und der Verlust vieler Freunde in tiefe Depressionen stürzten und ihn zum Eremiten werden ließen. Erst durch die dokumentarischen Arbeiten des US-Filmemachers Jim Tushinski („That Man: Peter Berlin“, USA 2005 und „The Peter Berlin Chronicles – Foursome“, USA 2018) betrat auch Peter Berlin wieder für einen Augenblick die Bühne. Aber nur, um den Status der Legende durch den Status des Mysteriums auszutauschen.
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