Glosse: Unter Deutschen
■ Liebe ausländische Mitbürger!
Es wird Ernst. Die SPD kennt keine Parteien mehr, nur noch Bürger. Im September startet sie in der Hauptstadt eine Einbürgerungskampagne. Ziehen Sie sich warm an. Denn Ortsvereinsmitglieder werden nun auf Sie zutreten, vielleicht sogar auch ansprechen. Leben mit den Deutschen – Sie kommen nicht daran vorbei.
Die taz informiert deshalb künftig in loser Folge über hiesige Sitten und Gebräuche, gibt Ihnen Tips, wie Sie Ihr Leben angesichts der neuen, existentiellen Herausforderung in der „offenen Republik“ konfliktfreier gestalten können. Tip eins: Erlernen Sie die eine oder andere Weise unseres reichen Liedschatzes in Text, Mimik und Melodie. Sympathien der Nachbarn und der eine oder andere Vorteil bei Geschäftsabschlüssen oder der beruflichen Karriere dürften Ihnen sicher sein. Eines der populärsten Volkslieder neben „Oh, du schöner Westerwald“ ist: „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“ Es wird immer dann angestimmt, wenn Deutsche ihrer unbändigen Lebensfreude angemessenen Ausdruck verleihen möchten. Erklingt dieses Lied, vergißt der Deutsche im Nu seine Scheu vor Körperkontakten. Jeder hakt sich in den Armen seiner Nachbarn unter – es wird geschunkelt. Schunkeln heißt zunächst nichts anderes, als sich mit dem Oberkörper im Takt nach links und dann nach rechts zu wiegen. In angemessenen Zeitabständen wendet man sein Gesicht dem Tischnachbarn zu und lächelt ihn mit leuchtenden Augen an, senkt die Köpfe synchron zwei-, dreimal rhythmisch nach unten. Vier, fünf Sekunden schaut man ihm in die Augen, um anschließend kräftiger in den Chor einzustimmen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute...“
Für die Zeit des Schunkelns vergißt der Deutsche soziale Unterschiede, politischen Streit, Konfessionen, Geld- und Zukunftssorgen. Er ist im Hier und Jetzt. Geschunkelt wird in der Regel nicht im Familienkreise, sondern auf öffentlichen Festen. Gerne während der Sommermonate im Freien, mit wildfremden Fremden. Auf dem Land häufiger als in der Stadt. In bildungsferneren Kreisen ausgelassener als in bürgerlichen. Werden Sie zum Schunkeln eingeladen, dann haben Sie es geschafft. Sie gehören zu uns!
Aber eines dürfen Sie nicht vergessen. Haben Sie zum Beispiel während einer fröhlichen Betriebsfeier mit dem Abteilungsleiter oder gar dem Chef fröhlich geschunkelt, heißt das nicht, daß Sie nun deren persönlicher Freund sind. „Duzen“ Sie ihn am nächsten Tag auf gar keinen Fall. Die menschliche Nähe gilt nur für die Zeit des Schunkelns. Eberhard Seidel-Pielen
wird fortgesetzt
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