Unschuldig verurteilt in USA: Der Mann aus dem Todestrakt
Shujaa Graham war acht Jahre unschuldig in einem US-Gefängnis, drei davon im Todestrakt. Heute kämpft er gegen die Todesstrafe.
WASHINGTON taz | In der Nacht ist das neue Enkelkind zur Welt gekommen. Ein Mädchen. Der Großvater hat sie noch gar nicht gesehen. Noch nicht im Arm gehalten. Und weiß noch nicht, dass sie „Malia“ heißen wird. Aber in seine große Frage, die ihn seit mehr als drei Jahrzehnten an jedem neuen Tag beschäftigt, hat er das Baby bereits einbezogen: „Was, wenn Kalifornien bekommen hätte, was es wollte?“
Kalifornien wollte Shujaa Grahams Leben. Wollte ihn hinrichten. Für einen Mord, den er nicht begangen hat. Er hat acht Jahre gebraucht, um seine Unschuld zu beweisen. Drei davon verbrachte er im Todestrakt von San Quentin. Heute gehört er zu der kleinen Gruppe von 138 Menschen in den USA, die dem Todestrakt entkommen sind.
An der Wohnzimmerwand in dem Einfamilienhaus in Takoma am nördlichen Rand der US-Hauptstadt hängt ein vergilbtes Schwarz-Weiß-Poster. Es zeigt Shujaa Graham als jungen Mann. Er hat kindliche Gesichtszüge, steht in einer Zelle, trägt die Haare im Afrolook und hält die geballte rechte Faust hoch. Der 61-Jährige zeigt mit dem Finger auf seinen Mitangeklagten Eugene Allen. Auch er wurde im Jahr 1981 freigesprochen, musste aber wegen Mordes an einem Mitgefangenen im Gefängnis bleiben.
„Er ist bis heute eingesperrt“, sagt Shujaa Graham, „seit mehr als 40 Jahren.“ In just diesem Moment werden seine Augen glänzend. Und er beginnt, im Wohnzimmer auf und ab zu gehen. Drei Schritte in die eine Richtung, drei Schritte in die andere Richtung. Immer hin und her. Als wäre er immer noch in einer jener Gefängniszellen, in denen er die ersten Jahre seines Erwachsenenlebens verbracht hat.
Diese Unruhe überkommt Shujaa Graham oft, wenn er über San Quentin spricht. Es war „bösartig“, sagt er, „die härteste Zeit meines Leben“. Zugleich hat er damals Menschen getroffen, die sein Leben verändert haben. Die für andere die „Monster im Todestrakt“ sind, nennt er „meine Lehrer, meine Vertrauten und meine Freunde“. Ihnen hat er versprochen: „Falls ich hier je rauskomme, werde ich für euch kämpfen.“
„Kein guter Deal“
Mehr als drei Jahrzehnte später ist Shujaas Bart weiß geworden. Aber er hält sich an das Versprechen. Und will sich in seiner verbleibenden Zeit noch mehr darauf konzentrieren. Die Abschaffung der Todesstrafe in den USA geht nur mit kleinen Schritten voran. Doch er glaubt, dass es „in zehn Jahren“ so weit sein könnte. Sein Ziel ist ein in der Verfassung verankertes Verbot der Todesstrafe. Damit kein Politiker, der sich als Hardliner profilieren will, Wahlkampf mit der Wiedereinführung der Todesstrafe machen kann.
Shujaa Graham verlangt damit sehr viel mehr, als in dem Referendum in Kalifornien steht. Er fährt oft zu Auftritten nach Kalifornien. Doch während der laufenden Kampagne spricht er Tausende Kilometer entfernt an der Ostküste der USA gegen die Todesstrafe. Die kalifornische Initiative nennt er „keinen guten Deal für uns“: Weil Kalifornien zwar die Todesstrafe abschaffen, aber zugleich die Rechte der Gefangenen einschränken will.
Wenn Kaliforniens Wähler am 6. November zustimmen, wird die Todesstrafe in ihrem Bundesstaat abgeschafft und durch ein Lebenslänglich ohne Begnadigung ersetzt. Die Abschaffung der Todesstrafe soll Kalifornien alljährlich 130 Millionen Dollar sparen, die mehrheitlich zur Aufklärung von Gewaltverbrechen eingesetzt werden würden.
Gegenwärtig sitzen 725 Gefangene in Kaliforniens Todeszellen – manche von ihnen seit mehreren Jahrzehnten. Seit Wiedereinführung der Todesstrafe im Jahr 1978 hat Kalifornien 13 Menschen hingerichtet, US-weit waren es im selben Zeitraum mehr als 1.300 Menschen. Insgesamt 3.200 Menschen sitzen im Moment in den Todestrakten der USA. Zwar ist sowohl die Zahl der Todesurteile als auch die der Hinrichtungen zurückgegangen, aber die Todesstrafe existiert weiterhin in 33 Bundesstaaten der USA. (dora)
Und weil es die Todesurteile automatisch in lebenslänglich ohne Bewährung umwandeln will. „Wir müssen mehr tun“, sagt Shujaa Graham, „wir müssen die Todesstrafe abschaffen und zugleich die Menschenrechte verteidigen. Wir müssen unser Justizsystem verändern.“ Politiker kommen dafür als Alliierte nicht in Frage. Selbst jene, die privat gegen die Todesstrafe sind, sprechen so etwas nur selten öffentlich aus. In den USA gilt die Forderung nach Abschaffung der Todesstrafe als politischer Selbstmord. „Sie folgen Meinungsumfragen, statt zu führen“, sagt Shujaa Graham.
Die Menschen, die seines Erachtens die nötige Glaubwürdigkeit haben, um den Kampf weiter voranzutreiben, sind Überlebende wie er selbst. Die exonerees, die selbst durch Todestrakte gegangen sind, sowie Angehörige von Mordopfern, die sich gegen die Todesstrafe aussprechen. Wie andere Exonerees hat Shujaa Graham sich der Gruppe Witness to Innocence angeschlossen. Er nennt sie „meine Familie“. Unter den Exonerees haben manche mehr als 15 Jahre im Todestrakt verbracht. Einer von ihnen war 45 Minuten von seiner eigenen Hinrichtung entfernt, ein anderer neun Tage.
Ein weiterer, der fälschlicherweise verurteilt war, weil er seine Frau ermordet haben sollte, war bis zu dem Moment von der Richtigkeit der Todesstrafe überzeugt, in dem sein bester Freund aus der Nachbarzelle abgeholt wurde. Die Wärter jubelten über die bevorstehende Hinrichtung des Mörders. Viele Exonerees haben in den Jahren im Todestrakt beinahe ihren Verstand verloren. Aber für Shujaa Graham sind die Treffen mit ihnen wie Medizin, sie tun seiner Seele gut. „Wenn ich sie sehe“, sagt er, „reicht es für sechs Monate.“
Im Gefängnis die „Black Panthers“ kennengelernt
Der 61-Jährige war kein Chorknabe, bevor er im Todestrakt landete. Seine Mutter, Baumwollpflückerin im tiefen Louisiana, ließ den kleinen Jungen bei Verwandten zurück, als sie auf der Suche nach einem besseren Leben in den Westen zog. Erst als der Sohn elf ist, darf er nachkommen. In Los Angeles schließt er sich einer Gang an. Knackt Autos. Stiehlt. Und geht in Jugendstrafvollzugsanstalten ein und aus. Mit 18 endet seine Karriere auf den Straßen von Los Angeles. Nach einem neuen Raub wird der jugendliche Wiederholungstäter zu einer nach oben offenen Strafe verurteilt, „fünf Jahre bis lebenslänglich“.
Es ist das Jahr 1969. Die schwarze Bürgerrechtsbewegung der USA hat das Innere der Gefängnisse erreicht. Hinter Gittern schaffen Black-Panther-Aktivisten, was die Gefängnisbehörden erst gar nicht versucht haben: Sie bringen den Jungen dazu, seinen Gangaktivitäten abzuschwören. Mitgefangene geben Ernest Graham den Suaheli-Namen „tapferer Kämpfer“. Shujaa Graham wird selbst ein Black Panther. Liest Bücher. Lernt zu meditieren. Und beginnt, Gefangene zu organisieren und gegen die Haftbedingungen zu protestieren. Als bei einem Gefängnisaufstand am 27. November 1973 der weiße Wärter Jerry Sanders erstochen wird, fällt der Verdacht sofort auf ihn.
„Ich war ein wütender, junger schwarzer Mann“, sagt Shujaa Graham bei einer Veranstaltung gegen die Todesstrafe in Virginia. „Aber wenn ich geahnt hätte, was mir bevorsteht, hätte ich zugelassen, dass sie mich umbringen.“ Er erwähnt „Schläge“ und „Folter“, ohne ins Detail zu gehen. Und er beschreibt, wie er binnen 20 Minuten nach seinem Todesurteil in dem Trakt landet, in dem sein Leben zu Ende gehen soll.
Wenn Shujaa Graham außer Haus geht, trägt er meist die blaue Jacke mit dem Namen der Gruppe Witness to Innocence. Er nennt sie „meine Uniform“. Manchmal hilft der Aufdruck auf der Jacke, wildfremde Menschen in Gespräche zu verwickeln. Dabei macht er in der Regel die Erfahrung, dass Todesstrafenbefürworter umschwenken, wenn sie von seinem Schicksal erfahren. Er ist ein mitreißender Redner, der sein Publikum in wenigen Sätzen mit in den Todestrakt nehmen kann. Der von lauten zu leisen Tönen wechselt. Und der seine Tränen und seinen Schweiß laufen lässt, wenn er ein ums andere Mal über die härteste Zeit seines Lebens spricht.
Von Gymnasiasten gerettet
Aber wenn er in den USA auftritt, kommen selten mehr als ein paar Dutzend Leute. Oft sind darunter Angehörige von anderen Todeskandidaten, die Hilfe bei dem Überlebenden suchen. „Nicht aufgeben“, rät der ihnen. Und: „Macht Druck!“ Das sei oft das Einzige, das Menschen im Todestrakt überleben helfen kann. „Ich habe trotz des Systems überlebt“, ist er überzeugt. Nicht der Justiz, sondern einer Gruppe von Gymnasiasten, die von ihm erfahren hatten, verdanke er seine Befreiung. „Sie haben Plätzchen gebacken, Flugblätter verteilt, mich draußen in Erinnerung gehalten, Geld für meine Verteidigung gesammelt“, sagt er, „und jeden Samstag hat einer von ihnen mich besucht.“
Im Ausland spricht Shujaa Graham vor größerem Publikum als zu Hause. In diesem November wird er wieder auf Einladung der Sant-Egidio-Gemeinde durch Italien reisen. Warum das Interesse an seiner Geschichte größer ist in einem Land, das keine Todesstrafe hat, als in den USA, wo fast jede Woche ein Mensch hingerichtet wird? „Bildungsarbeit“, antwortet er, „in Europa erinnern Gruppen systematisch daran, dass die Todesstrafe keine Sicherheit schafft und dass sie nicht die Kriminalitätsrate senkt. Das tun wir in den USA nicht.“ Vielleicht, so fügt er hinzu, „hat es auch damit zu tun, dass wir eine multiethnische Gesellschaft sind. Mit stärkeren Rachegelüsten.“
In San Quentin, wo Shujaa Grahams Leben enden sollte, hat das seiner Familie erst begonnen. Er verliebt sich in eine weiße Gefängniskrankenschwester und die verliebt sich in den Black Panther. Ihre Kollegen warnen sie: „Er ist gefährlich. Er wird dich linken.“ Aber Phyllis, die damals schon politisch aktiv ist, vertraut dem schüchternen Gefangenen. Für ihn ist sie die erste Freundin. Sie sorgt seither dafür, dass er nicht aufgibt.
Die junge Familie verlässt Kalifornien, weil Shujaa Graham nach seinem Freispruch weiterhin von der Polizei behelligt wird. 4.000 Kilometer weiter östlich, in Takoma, wird der einstige Todeskandidat zum Gärtner. Wenn er sein Engagement gegen die Todesstrafe aufgeben will, sagt seine Frau: „Dies ist wichtig – für dich und für uns.“ Neun Monate nach Shujaa Grahams Freilassung kommt das erste von drei Kindern des Paars zur Welt. Eine Tochter. Drei Jahrzehnte danach wird sie in diesem Spätoktober die Mutter von Malia.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos