Ungleiche Freunde: Das Schlitzohr und der Fotograf
Der eine ist Fotograf, der andere betreibt das Erotiktheater Salambo. Der eine ist Linker, der andere klebte Pro-Atomkraft-Aufkleber an seinen Mercedes. Dennoch waren Günter Zint und René Durand über 50 Jahre befreundet.
HAMBURG taz | „Eines Morgens kam René an den Küchentisch“, erinnert sich Günter Zint. „Er sah ein wenig blass aus, war leicht durch den Wind. Dann erzählte er mir, dass er in der Nacht wohl eine Herzattacke gehabt habe. Dies schien ihn aber gar nicht weiter zu stören. Er hat sich wohl nur die Frage gestellt: ,Was macht der Günter jetzt mit meiner Leiche?‘“, erzählt Zint. „Ich habe ihm dann gesagt, dass ich ihn ins Moor gebracht hätte, und er dann eine Moorleiche geworden wäre. Die Idee schien ihm zu gefallen und er wurde wieder ruhiger.“
Günter Zint erinnert sich gerne an seine Zeit mit René Durand. 1964 haben sich die beiden kennengelernt. Zint arbeitete damals als Fotograf für den „Star Club“, Durand betrieb im Hinterhof das „Salambo“, ein Theater mit sehr freizügigen und recht expliziten Darbietungen: Neben Schauspiel und Tanz gab es auch Live-Sex auf der Bühne zu sehen. Nicht selten wurde sogar das Publikum in die sexuellen Handlungen mit einbezogen.
Durand, der in Frankreich geboren und aufgewachsen war, erdachte eigene Choreografien und zeigte seinen Darstellern, wie sie sich eindrucksvoller auf der Bühne bewegen. Sein französischer Akzent und sein Charme erleichterten den Unterricht. „Er konnte auch völlig akzentfrei sprechen, aber er wusste natürlich, welche Wirkung er mit seinem Französisch erzielen konnte“, sagt Zint.
Als der „Star Club“ schließen musste, heuerte Zint bei Durand an, fotografierte und kümmerte sich um die Öffentlichkeitsarbeit – und war fortan Teil des Rotlicht-Milieus. Im eher konservativen Fulda aufgewachsen, sei es für ihn ein doch eher unverhoffter Karriereweg gewesen, sagt er rückblickend. Doch er ließ sich auf das Abenteuer ein. In Durand hatte er bald einen guten Freund gefunden. „Politisch hätten wir kaum verschiedener sein können. René fuhr mit dickem Mercedes und Pro-Atomkraft-Aufklebern durch die Gegend und ich war in der linken Ecke zuhause.“ Dennoch fanden sie eine gemeinsame Ebene. „Unsere Freundschaft war eine Mischung aus Geschäftsverbindung, Sympathie und Lust am Widerspruch“, so Zint. Mit Durand habe man einfach hervorragend diskutieren können. Sie sparten die schwierigen Themen nicht aus. Durand erzählte Zint von seiner Zeit im KZ, Zint von seinem Leben in der Kommune. „Ich habe René immer für seine Schlitzohrigkeit bewundert“, sagt Zint. „Egal, wie misslich die Lage auch war, er hat immer gewusst, wie er sich herausschlawinern kann.“
Als Anfang der Neunzigerjahre die Behörden eine Säuberungsaktion auf dem Kiez starteten, war das Salambo immer die erste Adresse für Hausdurchsuchungen. „René stand dann manchmal mit hochgekrempeltem Ärmel in der Tür, zeigte seine KZ-Nummer und rief: ,Kommt rein Jungs – ich hab viel Schlimmeres erlebt!‘“, sagt Zint. Zu verbergen habe Durand nichts gehabt: „Er hat seine zeitweise bis zu 70 Mitarbeiter fair und respektvoll behandelt, war sehr beliebt. Alle nannten ihn Papa Dudu.“
Anfang der 1990er Jahre übertrug Durand das Salambo seiner Tochter Yvonne und zog sich nach Marokko zurück. Hier lebte er mit seiner Haushälterin, Zarah, die er aus Dankbarkeit für ihre Pflege heiratete. Doch Zint und Durand verloren sich nicht aus den Augen. Jedes Mal, wenn Durands Touristenvisum ablief, verbrachte er einige Wochen in Niedersachsen bei Günter Zint. Er hatte sich dort einen Wohnwagen aufgestellt und konnte inmitten der ländlichen Idylle tun und lassen, was ihm gefiel.
Von seinem letzten Urlaub in Deutschland sollte René Durand nicht mehr nach Marokko zurückkehren. Mit seiner Gesundheit ging es 2012 rapide bergab. Dass er für seinen kranken Freund sorgen würde, war für Zint keine Frage, sondern Ehrensache. Zusammen mit Mitbewohnern und Nachbarn in Behrste-Estorf hat er sich über mehrere Monate rund um die Uhr um Durand gekümmert, ihm Essen zubereitet, ihn gepflegt. „Erst war es ihm unangenehm, doch dann hat er eingesehen, dass es nicht anders geht“, sagt Zint.
An manchen Tagen wusste Durand kaum mehr, wer er war. An anderen Tagen saßen Zint und er zusammen und tauschten alte Erinnerungen aus. Etwa über die Ausflüge mit Durands monströsem Wohnmobil und wie der Grenzkontrolleur über die anmontierten Drucklufthörner gestaunt hatte. „Das ist eine Alarmanlage“, hat Durand damals gesagt. „Man muss doch sein Eigentum schützen.“ Diese Schlitzohrigkeit habe sich sein Freund bis zum Schluss bewahrt, sagt Zint. Sein Charme galt nun nicht mehr den Porno-Darstellerinnen, sondern seiner Pflegerin, einer Nachbarin von Zint – egal, wie schlecht es Durand gerade ging.
Während der wachen Momente hat Zint zusammen mit seinem Freund auch ein Buch und Filmprojekt vorangetrieben. Vor laufender Kamera hat Durand aus seinem bewegten Leben erzählt, von seiner Zeit im KZ, aber auch immer wieder vom Salambo und seinen anderen Aktivitäten auf dem Kiez. In den Monaten zuvor hatten sie Schauplätze aus Durands Leben besucht. „Ich will Renés Lebensgeschichte erzählen – und zwar vollständig“, sagt Zint. „Das bin ich ihm schuldig.“
Nach knapp drei Monaten in Zints Obhut hatte sich Durands gesundheitlicher Zustand trotz intensiver Pflege weiter verschlechtert. Nach mehreren Herzanfällen musste er ins Krankenhaus gebracht werden, da er die Schmerzen seiner Gichtschübe ohne Morphium nicht mehr ertrug. Schweren Herzens verabschiedeten sich die Freunde in der niedersächsischen „Freien Republik Behrste“ im Herbst 2012 von ihm.
Zu diesem Zeitpunkt ahnte Zint nicht, dass er seinen Freund nicht wiedersehen würde. Kaum im Krankenhaus eingeliefert, schaltete sich Durands Tochter Yvonne ein und schottete ihn ab. Sie ließ ihren Vater einige Papiere unterschreiben, holte sich eine Patientenvollmacht und nahm ihren Vater zu sich nach Hause. Zint verweigerte sie das Besuchsrecht.
Mittlerweile gibt es einen handfesten Rechtsstreit. Yvonne Durand, die Zint von Kindesbeinen an kennt, hat ihn wegen Urkundenfälschung angezeigt. René Durands Testament, dem zufolge Günter Zint sämtliche Erinnerungsstücke aus Salambo-Zeiten erben sollte, sei eine Fälschung. Das Verfahren wurde von der Staatsanwaltschaft Stade eingestellt. Auf taz-Anfrage wollten sich Yvonne Durand und ihre Anwälte nicht zu der Auseinandersetzung äußern.
Laut Zint haben sie ein Versöhnungsangebot abgewiesen. Es bestehe „kein Interesse an einem persönlichen Treffen zur Klärung der weiteren Auseinandersetzung“, heißt es in einem Schreiben. Stattdessen beharren sie darauf, eine „Exklusivitätsvereinbarung“ abzuschließen, nach der Zint kein biografisches Material über René Durand für ein Film oder Buchprojekt verwenden darf. Yvonne Durand hat selbst einen Vertrag mit der Produktionsfirma „My Way Productions“ geschlossen und will einen eigenen Film über ihren Vater drehen.
Im April 2013 hat die Familie Durand beim Amtsgericht Stade eine Klage gegen Zint auf Herausgabe aller geerbten Sachen eingereicht, sagt Zints Anwalt Albrecht Lüders. Dessen Film und Buchprojekt liegt vorerst auf Eis. Die Produktionsfirma Otremer hat die Arbeiten an dem Dokumentarfilm vorläufig eingestellt. Per anwaltlichem Schreiben hat Yvonne Durand Zint dazu aufgefordert, sämtliche Zeitzeugnisse über ihren Vater auszuhändigen, darunter auch das sagenumwobene Gästebuch des Salambo, in dem Danksagungen vieler sehr prominenter Personen zu finden sind.
Günter Zint ist ratlos. Er weiß nicht, warum Yvonne Durand ihn an seiner Arbeit hindern will. Schließlich arbeitet er schon seit mehreren Jahren an dem Film und hat nicht unerheblich viel Geld in die Produktion gesteckt – so viel, dass er sein Lebenswerk, das St. Pauli Museum, ohne öffentliche Unterstützung nicht länger wird betreiben können.
Am 17. Januar 2013 ist René Durand im Alter von 85 Jahren gestorben. Am 29. Januar wurde er beerdigt. Die Trauerrede hielt Kiez-Größe Karl-Heinz Schwensen, unter den Trauergästen befanden sich neben der Familie auch schillernde Drag-Queens und Mitglieder der Hells Angels. Günter Zint war nicht dabei.
Er wollte nicht. „So eine Beerdigung hätte René nicht gewollt. Der kannte Schwensen doch nicht einmal. Ein Ende als Moorleiche hätte ihm sicher besser gefallen.“
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