Ungarische Minderheit in der Ukraine: Uschhorods Bewährungsprobe
Gut 100.000 Menschen in der Westukraine gehören zur ungarischen Minderheit. Sie sehen sich nun mit neuen Gesetzen zu Bildung und Sprache konfrontiert.
Ein Hauch von Österreich empfängt den Besucher beim Gang durch Uschhorod. Schuhmacherwerkstätten, Blumengeschäfte, eine „Kramnitza“, also ein Kramladen, in dem es billige Kugelschreiber, „Papir“ und Plastikspielzeug gibt, säumen die engen Gassen. Uschhorod ist inzwischen eine der beliebtesten Städte der Ukraine. Zwar heulen auch hier täglich die Sirenen, doch eingeschlagen hat eine russische Rakete während des Krieges nur ein einziges Mal.
Über hundert Firmen aus der Ostukraine haben sich inzwischen im relativ sicheren Uschhorod angesiedelt. Doch diese neue Popularität der Stadt hat ihren Preis. Seit Kriegsbeginn sind die Mieten auf dem Wohnungsmarkt beträchtlich angestiegen. Eine Dreizimmerwohnung kostet inzwischen 1.000 Dollar. Und wer im Zentrum der Stadt am Ufer des Usch schlendert, bezahlt für eine Kugel Eis zwischen 1 und 2 Euro. Und so kann hier nur gut leben, wer Geld und einen Job hat.
Wer das nicht vorweisen kann, muss mit Hunderten in einer der Massenunterkünfte in Sporthallen und Schulen leben. Bis zu 50.000 Binnenflüchtlinge waren zeitweise in dieser 100.000-Einwohner-Stadt, berichtet Josif Borto, Abgeordneter im Bezirksrat von Uschhorod, der taz.
Unterkunft in der Universität
Auf einem großen Platz vor dem Institut für Wirtschaft und Handel der Universität Uschhorod tollen Kinder. Sie haben in der Universität erst mal eine Bleibe gefunden. Vorerst. Wie es nach dem 1. September, wenn die Universität wieder ihren Lehrbetrieb aufnimmt, weitergehen wird, wird sich zeigen. Alle sind sie ganz aufgeregt, scharen sich um eine Frau, Julia Dub, die mit ihnen Spiele macht – mal wird gesungen, mal ein Ball geworfen, mal wird über ein Rätsel nachgedacht. Keines dieser Kinder ist freiwillig nach Uschhorod gekommen. Der Krieg hat sie ihrer Wohnungen beraubt, sie alle sind mit ihren Eltern geflohen.
Mit mehreren Dutzend Freiwilligen hat Julia Dub angefangen, sich um Flüchtlinge und vor allem deren Kinder in Uschhorod zu kümmern. Am Sonntag hatten sie ein großes Fest veranstaltet, zu dem die Stadtbevölkerung und die Flüchtlinge eingeladen waren. Gemeinsam wurden in Workshops praktische Fragen des alltäglichen Lebens besprochen.
Die Anbindung der Binnenflüchtlinge an die einheimische Bevölkerung von Uschhorod ist Julia Dub wichtig. Denn die erste Begeisterung, mit der man die Flüchtlinge aufgenommen hat, ist vorbei. Und auch die Freiwilligen, die Julia Dub unterstützen, werden weniger. Waren sie vor einigen Monaten noch 40 Freiwillige, sind sie jetzt nur noch 10, sagt Julia Dub.
Auf Dauer könne man in einer teuren Stadt eben nicht kostenlos arbeiten, sagt sie und zeigt Verständnis für die Kolleginnen, die inzwischen wieder gegangen sind. Dabei werden die Probleme eher mehr werden. Neben der offenen Unterbringungsfrage ab Anfang September werden spätestens mit Einbruch des Winters auch wieder neue Flüchtlinge aus dem Osten kommen.
Russland hat nach Angaben des ungarischen Außenministeriums mit zusätzlichen Gaslieferungen an das EU-Mitgliedsland begonnen. Nach Verhandlungen zwischen Moskau und dem ungarischen Außenminister Peter Szijjarto im vergangenen Monat habe der russische Konzern Gazprom am Freitag begonnen, mehr Gas als „bereits vertraglich vereinbart“ zu liefern, teilte der Ministeriumsvertreter Tamas Menczer mit. Nach seinen Angaben werden bis Ende August zusätzlich 2,6 Millionen Kubikmeter pro Tag durch die TurkStream-Pipeline nach Ungarn kommen. Über die weiteren Lieferungen im September werde noch verhandelt, erklärte Menczer weiter. Er betonte, es sei „die Pflicht der ungarischen Regierung, die sichere Versorgung des Landes mit Erdgas zu gewährleisten“. Der Erwerb von derart großen Mengen Gas sei angesichts der derzeitigen „europäischen Marktbedingungen“ ohne russische Quellen „unmöglich“, erklärte Menczer. In der EU ist seit Dienstag ein Gas-Notfallplan in Kraft. Die Verordnung sieht freiwillige Erdgaseinsparungen im Winter in Höhe von 15 Prozent pro Land vor, doch lässt sie zahlreiche Ausnahmen zu. (afp)
meinung + diskussion12
Wenige hundert Meter weiter verteilt Margarita Artjuchowa Mittagessen. Artjuchowa lebt vegan, sie koordiniert im ganzen Land das Projekt „Die vegane Küche der Ukraine“. In acht ukrainischen Städten haben inzwischen Privatleute ihre Küchen zur Verfügung gestellt, in denen täglich für das Projekt gekocht wird. Jeden Tag geben sie einmal vor der Philharmonie von Uschhorod Essen aus, veganes und vegetarisches. Und sie beliefern Soldaten und Binnenflüchtlinge mit veganer Nahrung. Daneben halten sie Vorträge und geben Kochkurse.
Zwischen 200 und 400 Mahlzeiten verteilen sie täglich landesweit. „Es ist nicht leicht, in der Stresssituation des Krieges für eine vegane Lebensweise zu werben“, sagt Artjuchowa. „Aber wir machen weiter unsere Angebote. Und so kommen immer wieder neue Leute zu uns.“ Finanziert werde ihre Arbeit von Stiftungen.
Wieder einige hundert Meter weiter startet die Aktivistin Galina Jarzewa die Aktion „Big City Ride“. Mit Rockmusik, einer Radtour, dem Verkauf von Getränken und Speisen und mit Spenden wird für die Armee und die aus Transkarpatien stammenden Einheiten gesammelt. Mehrere hundert Bürger:innen der Stadt begleiten die Aktion.
Warten auf Kochtöpfe und Pfannen
Auch am Schupanatska-Platz versammeln sich mehrere hundert Menschen neben der reformierten Kirche von Uschhorod. Die Gottesdienstzeiten sind in ungarischer und ukrainischer Sprache angeschrieben. Geduldig warten die Menschen in der Hitze, bis sie an der Reihe sind. Die Wartenden sind fast ausschließlich Frauen. und sie wollen zur Ausgabestelle des Roten Kreuzes. Jede erhält hier zwei Kochtöpfe, eine Pfanne, eine Kochplatte und zwei Decken. Hier wird nur Russisch gesprochen.
Gut 100.000 Einwohner:innen von Transkarpatien gehören zur ungarischen Minderheit, berichtet Josif Borto der taz. Er ist der Chef der KMKS, der Partei der Ungarn der Ukraine, im Gebiet Transkarpatien, stellvertretender Vorsitzender der Gesellschaft für ungarische Kultur im Gebiet Transkarpatien und stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Partei der Ungarn der Ukraine im Bezirksrat Transkarpatien.
Immer wieder fällt der Name Uschhorod, wenn es um die ungarisch-ukrainischen Beziehungen geht. So sorgten ein Sprachen- und Bildungsgesetz, das die ungarische Sprache im öffentlichen Raum zurückdrängt, zwei Brandanschläge auf das ungarische Kulturzentrum in Uschhorod im Februar 2018 und die Ausgabe ungarischer Pässe an ungarischstämmige ukrainische Staatsbürger für Konfliktstoff. Ebenso wie der ungarische Premierminister Viktor Orbán, der sich gegen die antirussischen Sanktionen ausspricht und keinen Hehl aus seinem guten Verhältnis zu Putin macht und der mit seiner Rhetorik einer „Rassenvermischung“ polarisiert. Für viele Ukrainer:innen ist das ein rotes Tuch.
Einem, dem es nicht gefällt, dass man beim Gespräch über die ungarisch-ukrainischen Beziehungen immer wieder sofort auf Viktor Orbán zu sprechen kommt, ist Dmytro Tuzhanskyj vom Uschhoroder Institute for Central European Strategy. Wenn man über die ungarisch-ukrainischen Beziehungen rede, so Tuzhanskyj, müsse man die Beziehungen der Ukrainer zu den Ungarn in der Ukraine, der ungarischen Gesellschaft in Ungarn und der ungarischen Regierung getrennt behandeln.
Josif Borto, Abgeordneter im Bezirksrat Uschhorod
Es sei nicht richtig, so Tuzhanskyj, dass mit dem neuen Schulgesetz, das im Herbst 2023 in Kraft treten soll, die ungarische Sprache aus den Schulen der ungarischen Minderheit verschwinde. Von der ersten bis zur vierten Klasse können alle Kinder in den Schulen der ungarischen Minderheit weiterhin alle Fächer in ungarischer Sprache lernen. Ab der fünften Klasse soll dann der Anteil des Unterrichts in Ukrainisch von 20 Prozent auf 40 Prozent steigen. Und von der sechsten bis zur neunten Klasse auf einen Anteil von 60 Prozent.
Bilungualer Unterricht wäre gut
Tuzhanskyj sieht die Probleme bei der Umsetzung des Gesetzes. Er fragt sich, wie das in der Praxis funktionieren solle, dass zwischen 20 und 40 Prozent des Unterrichts in ukrainischer Sprache gehalten werden sollen. „Heißt das, dass pro Unterrichtseinheit von 45 Minuten 9 beziehungsweise 18 Minuten auf Ukrainisch gehalten werden und der Rest auf Ungarisch (oder Slowakisch, Rumänisch et cetera)?“ Letztendlich werde es in der Praxis so ablaufen, dass der Unterricht bilingual abgehalten werde, glaubt er. „Und Bilingualität ist eine gute Sache.“
Gleichzeitig bedauert Tuzhanskyj, dass es nicht genügend Kontakte zwischen ukrainischer und ungarischer Zivilgesellschaft gebe. Regelmäßige Treffen von Journalist:innen, verschiedenen Berufsgruppen beider Länder und Aktivist:innen würden erheblich zur Entspannung der Lage beitragen.
Am schwierigsten sei sicherlich der Kontakt auf höchster Ebene, übernehme Orbán doch in vielen Fragen das russische Narrativ. Aber auch da gebe es erfreuliche Entwicklungen. So hat die ungarische Regierung erklärt, sie werde für die Dauer des Krieges die Sprachenfrage nicht mehr ansprechen. Außerdem hat Ungarn sich in jüngster Zeit, das heißt nach dem 24. Februar, nicht mehr gegen eine Zusammenarbeit von Ukraine und Nato ausgesprochen.
Noch einmal zurück zu Josif Borto, dem Abgeordneten aus Uschhorods Bezirksrat. Im Gespräch mit der taz legt er dar, dass die transkarpatischen Ungarn auf eine tausendjährige Tradition des friedlichen Zusammenlebens mit den anderen fast hundert Nationalitäten zurückblicken können. „Und dieses Zusammenleben war und ist von Toleranz geprägt.“
Gleichzeitig bedauert er gewisse Einschränkungen für die Minderheitensprachen. „Ja, wir hatten das Recht, Ungarisch zu lernen und Ungarisch in allen Bereichen des öffentlichen Lebens zu sprechen – nicht nur zu Hause, sondern überall. Dieses Recht galt früher, die Ukraine hat es garantiert, die Verfassung garantiert es. Die neuen Gesetze der Ukraine zu Bildung und Sprache schränken dieses Recht ein.“
Kritik steht hintan wegen des Krieges
Doch mit dem russischen Angriffskrieg habe man sich entschieden, Kritik hintanzustellen. „Russland ist der Aggressor, wir verteidigen die Ukraine“, sagt er fest entschlossen. Die karpatischen Ungarn unterstützen die ukrainische Armee, einige Ungarn kämpften in der ukrainischen Armee, die ungarische Community in den Karpaten helfe den Binnenflüchtlingen aus dem Osten des Landes.
Gleichzeitig lobt er die Zusammenarbeit mit Ungarn. So hätten die regionalen ukrainischen Behörden mit ungarischen Behörden vereinbart, dass ukrainische Binnenflüchtlinge in Ungarn arbeiten können, aber die Steuern nach Transkarpatien gehen. Außerdem helfe Ungarn der Ukraine beim Export von Getreide. So gebe es jetzt Transporte über Ungarn in den Hafen von Split.
Am nächsten Abend geht es wieder mit dem Nachtzug zurück nach Kiew. „Ich darf mal kurz um Ihre Aufmerksamkeit bitten“, wendet sich der Zugbegleiter mit lauter Stimme an seine Fahrgäste. „Bitte werfen Sie keine Gegenstände in die Toiletten. Sollte der Zug beschossen werden, legen Sie sich sofort auf den Boden. Sollte der Zug evakuiert werden, dürfen Sie nur Ihre Wertsachen mitnehmen. Die Koffer bleiben im Zug. Angenehme Fahrt.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Scholz fordert mehr Kompetenzen für Behörden