Undemokratisches Wahlrecht in Thailand: „Wir brauchen einen Wechsel“
Thailand wählt am Sonntag ein neues Parlament. Doch den höchsten Stimmanteil zu bekommen, genügt nicht, um die Regierung zu stellen.
Es wird sogar schon spekuliert, Move Foward könnte als Partei mit der ehrgeizigsten Reformagenda dem bisherigen Favoriten Pheu Thai (PT), der ebenfalls reformorientierten Oppositionspartei des Thaksin-Clans, den Rang als stärkste Partei streitig machen.
Der 2006 vom Militär gestürzte Thaksin Shinawatra lebt zwar im Exil, ist jedoch die treibende Kraft hinter der PT. Die wird jetzt von seiner Tochter Paetongtarn Shinawatra geführt. Die 36-Jährige hat als Ziel die Eroberung von 310 Mandaten ausgegeben. Damit könnte Paetongtarn mit Unterstützung kleinerer Parteien Premierministerin werden.
Trotz Schwangerschaft führte sie einen fulminanten Wahlkampf, den sie nur am 1. Mai kurz für die Geburt ihres zweiten Kindes unterbrach. Nach einem Instragram-Foto mit Mann und neugeborenem Sohn Thasin ging sie zwei Tage später wieder auf Wahlkampftour.
Wahlsieg garantiert keine Regierungsübernahme
Stärkste Partei zu werden, ist in Thailand keine Garantie für einen Machtwechsel. Die von der Junta nach dem Putsch gegen Paetongtarns Tante Yingluck Shinawatra im Mai 2014 maßgeschneiderte Verfassung gibt dem Militär die Oberhand.
Regierungschef wird, wer von mindestens 376 der 500 gewählten Parlamentariern und den 250 von der Junta handverlesenen Senatoren gewählt wird. Hat ein Kandidat den kompletten Senat auf seiner Seite, reichen schon 126 Stimmen der gewählten Abgeordneten.
So geschehen nach der letzten Wahl 2019 in Kombination mit nachträglicher Änderung des Zählverfahrens und verordneter Auflösung der Partei Future Foward, der Vorgängerin von Move Forward, wegen angeblicher Gesetzesverstöße.
Piyarat „Toto“ Chongtheps Auftritt wenige Tage vor der Wahl in einer Shopping Mall in Bangkoks Stadtteil Bang Na spiegelt die Popularität in den Umfragen von Move Forward und ihres charismatischen Spitzenkandidaten Pita Limjaroenrat wieder. Das Publikum begrüßt den 32-jährigen Kandidaten Toto mit Victory-Zeichen und plaudert bei Selfies mit ihm wie mit einem lieben Nachbarn.
Erste Wahl seit den Jugendprotesten
Als Gründer und Chef des Netzwerkes WeVO (We Volunteer, Wir Freiwillige) war Toto eine der zentralen Personen der Jugendproteste 2020 gegen die militärnahe Regierung.
WeVo schützte Demonstranten vor Übergriffen der Polizei. Zwar wurden die Proteste niedergeschlagen, lösten aber einen grundlegenden Wandel im politischen Diskurs aus.
Denn erstmals wird offen über bisherige Tabus wie die Abschaffung des drakonischen Gesetzes zur Ahndung angeblicher Majestätsbeleidigung gesprochen. Das Gesetz schützt die Monarchie und ermöglicht Militär und konservativer Elite, ihre Einflüsse zu wahren und zugleich Protagonisten fortschrittlicher Reformen einzuschüchtern oder aus dem Verkehr zu ziehen.
Jetzt haben die jüngeren Generationen bei dieser ersten Wahl seit den Jugendprotesten eine Schlüsselrolle. Mit etwas über 40 Prozent der 52 Millionen Wahlberechtigten sind die bis 42-Jährigen die größte demografische Gruppe.
Politologin: Konservative haben dazugelernt
Kanokrat Lertchoosakul hält das Wahlverhalten ihrer Landsleute jeglichen Alters jedoch für unvorhersehbar. Die junge Generation sei ebenso fragmentiert wie die konservative Elite, sagt die Politologin der Chulalongkorn Universität in Bangkok. Sie forscht zur neuen Jugendbewegung, sagt aber auch: „Viele Konservative haben in den letzten Jahren dazugelernt und kapiert, dass sie nicht mehr gegen das Volk regieren können.“
Die Oppositionsparteien Pheu Thai und Move Forward dürften jetzt die meisten Stimmen bekommen. Die konservativen Parteien von Putschgeneral und Premierminister Prayuth Chan-o-cha (69) und seinem Stellvertreter und langjährigen Mentor Prawit Wongsuwan (77) liegen in Umfragen zurück.
Waren die beiden damaligen Generäle beim Putsch und in der folgenden Junta ein Herz und eine Seele, sind sie jetzt als Politiker Rivalen. Die militärnahe Palang-Pracharath-Partei kürte Prawit zum Spitzenkandidaten, nachdem Prayuth zur United Thai Partei gewechselt war und sofort ihr Chef und Spitzenkandidat wurde.
Der Amtsinhaber ist nicht sehr beliebt
In Umfragen liegt Prayuth, der nie sonderlich beliebt war, stark zurück. Die Thais sind unzufrieden mit dem Coronamanagement seiner Regierung und sehen ihn als Verantwortlichen für die schwächelnde Wirtschaft an.
Doch wird die konservative Elite einen demokratischen Wechsel akzeptieren? Werden Pheu Thai und Move Forward zusammengehen? Oder hat Pheu Thai Gerüchten zufolge längst einen Deal mit den Konservativen geschlossen?
Das wäre ein Treppenwitz der Geschichte. Seit 2001 haben Thaksins Parteien jede Wahl gewonnen, wurden aber durch von der konservativen Elite inszenierte Militärputsche gestürzt und formierten sich immer wieder neu.
Getreu seines Tattoos „Beweg dich“ ist es Parn fast schon egal, welche Koalition letztlich regieren wird. „Thailand stagniert unter der gegenwärtigen Regierung“, sagt er. „Wir brauchen Neues, wir brauchen einen Wechsel.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Wirkung der Russlandsanktionen
Der Rubel rollt abwärts
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Rauchverbot in der Europäischen Union
Die EU qualmt weiter
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag