Umgang mit Frühgeborenen: Wie Medizin Frühchen rettet
Zwischen sechs und neun Prozent der Neugeborenen in Deutschland kommen zu früh auf die Welt. Moderne Medizin verbessert ihre Überlebenschancen.
Entspannt führt der leitende Arzt der Abteilung für Neonatologie und pädiatrische Intensivmedizin, Martin Blohm, durch die Zimmer. Auch hier ist die Hightechmedizin einer Intensivstation nur auf den zweiten Blick zu erkennen. Eingekuschelt in Decken liegt ein kaum 1.200 Gramm schweres Baby auf der nackten Brust seiner Mutter. Eine Atemmaske bedeckt das winzige Gesicht, Kabel überwachen die Herzfrequenz. „Am Vormittag sind besonders viele Eltern hier und kuscheln mit ihren Kindern“, erklärt Martin Blohm. Das sogenannte Känguruhen stärkt die emotionale Bindung zwischen Kind und Eltern und hat positive Effekte auf die Entwicklung.
Der vertraute Herzschlag beruhigt das Kind, und die Bewegungen des Brustkorbs geben Atemreize. Im Plauderton spricht der Chefarzt mit der Mutter über die Gewichtszunahme des kleinen Mädchens, das noch nicht seine Körpertemperatur allein halten kann und Unterstützung beim Atmen braucht. Wenn es nicht auf der Brust der Mutter kuschelt, liegt es warm und überwacht in einem Inkubator. Die Prognose sei gut, sagt Blohm beim Rausgehen. Wenn alles weiter so positiv verläuft, können Mutter und Kind in ein paar Wochen nach Hause gehen – kurze Zeit nach dem eigentlich errechneten Geburtstermin.
Unterstützung gelingt immer besser
Als frühgeboren gelten alle Kinder, die vor der 37. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommen. Längst nicht alle von ihnen müssen nach der Geburt auf eine Intensivstation, die Mehrheit kommt „nur“ wenige Wochen vor dem errechneten Geburtstermin zur Welt. Sie können nach wenigen Wochen, manchmal auch nach Tagen, die Kinderklinik verlassen. Aber dann gibt es noch die sehr unreifen Frühchen, die zwischen der 24. und 32. Schwangerschaftswoche zur Welt kommen und mit weniger als 1.500 Gramm geboren werden. Ihr Anteil liegt bei etwa 1,5 Prozent aller Neugeborenen in Deutschland. Dank moderner Medizin ist ihre Überlebensrate in den letzten Jahrzehnten stark gestiegen.
Heutzutage überleben schon ab der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche fast 80 Prozent dieser Kinder, gegenüber 30 Prozent in den späten 1970er Jahren – als Risikopatienten gelten sie trotzdem. „Wenn ein Kind so früh auf die Welt kommt, sind seine Organe und Körperfunktionen noch nicht ausgereift. Deshalb braucht es viel medizinische Unterstützung, bis es selbstständig überlebensfähig ist“, erklärt Blohm.
Dank des medizinischen Fortschritts gelingt diese Unterstützung immer besser. Wer dabei sofort an Hightechmedizin mit vielen Maschinen denkt, liegt aber nur halb richtig – auf der Frühgeborenen-Intensivstation gilt eher „so wenig Technik wie möglich“. Die Behandlung von Frühgeborenen vergleicht Blohm mit einem System, das im Gleichgewicht gehalten werden muss. Die Ärzte greifen nur ein, wenn ein Teil dieses Systems zu kippen droht. Ansonsten lässt man der kindlichen Entwicklung ihren Lauf.
Gute Bindung zu den Eltern
Ein Beispiel dafür ist die invasive Beatmung. Sie wird nur noch in Notfällen genutzt. Stattdessen wird die Lungenreifung nach der Geburt durch Medikamente unterstützt, und danach genügt eine Atemmaske über der Nase als Unterstützung. Das Kind leistet den größten Teil der Atemarbeit selbst. Dadurch sinkt die Gefahr von Lungenschäden. Auch die Bindung zu den Eltern hat an Bedeutung gewonnen. Auf der Frühgeborenen-Intensivstation des Altonaer Kinderkrankenhauses gibt es Einzelzimmer. Die Mütter und Väter können hier den ganzen Tag bleiben und werden eingebunden. Sie wechseln Windeln, füttern alle zwei oder drei Stunden oder helfen beim täglichen Waschen. Das ist gut für die kindliche Entwicklung und schafft Bindung.
Auch gestillt wird schon früh. Das Stillen ist sogar mit Atemmaske möglich. Frühgeborene werden heute fast ausschließlich mit Muttermilch ernährt, selbst bei einer Magensonde. Muttermilch liefert neben menschlichen Eiweißen, Fetten und Kohlenhydraten auch Immunstoffe, Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente. Künstliche Milch aus dem Labor ist nur ein zweitklassiger Ersatz. Im Zweifel bekommen die Frühchen, deren eigene Mutter keine oder noch keine Milch hat, gespendete Muttermilch. Anders als auf Intensivstationen für erwachsene Patienten piepen die Überwachungsgeräte nicht, der Alarm ist hier leiser und arbeitet auf manchen Stationen mit Vibrationen. Sogar das Licht wird an einen Tag-Nacht-Rhythmus angepasst. Diese Routine ist gut für die Kinder.Ganz ohne Hightechmedizin geht es trotzdem nicht.
Mit den modernen Inkubatoren lassen sich die Vitalwerte überwachen. Die meisten Untersuchungen finden heute dank digitaler Technik direkt im Inkubator statt, egal ob Röntgen, Wiegen oder Ultraschall. Das spart unnötige Wege und verhindert Stress für die kleinen Patienten. Auch die minimalinvasiven Behandlungstechniken haben sich weiterentwickelt. So können Fehlbildungen, typische Erkrankungen des Darmes und fehlgeleitete Blutkreisläufe auf der Station operiert werden – auch bei Patienten, die kaum mehr als 500 Gramm wiegen.
Martin Blohm, Intensivmediziner
Eine „Errungenschaft“ des Fortschritts: Die untere Grenze der medizinischen Möglichkeiten hat sich in den letzten Jahren verschoben. In Deutschland werden Kinder aktuell ab der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche kurativ behandelt. Unterhalb von 22 Wochen ist ein Überleben wegen der noch nicht entwickelten Lunge mit den heutigen Methoden der Medizin quasi unmöglich. Auch das Gewicht des Kindes zum Zeitpunkt der Geburt hat Einfluss auf die Überlebenschancen. „Die technischen Möglichkeiten sind sicher faszinierend, aber ich weiß nicht, ob wir die natürliche Grenze noch weiter verschieben können und sollten“, sagt Blohm.
Denn auch das gehört zur Wahrheit: Auch wenn die Überlebensraten stetig steigen, bleibt vor allem bei den allerkleinsten Kindern die Gefahr für kurz- und langfristige Probleme hoch. Herz- und Lungenprobleme kommen häufig vor. Und besonders das Gehirn ist noch unreif und sehr empfindlich.
Erhebungen wie die bayerische Entwicklungsstudie von Forschenden um den Entwicklungspsychologen Dieter Wolke von der University of Warwick begleiten seit den 1980er-Jahren Hunderte Familien mit Frühchen. Ihre Untersuchungen zeigen, dass Frühchen bis ins Erwachsenenalter Folgen der frühen Geburt spüren. Neben geistigen und körperlichen Beeinträchtigungen kommt es auch zu Verhaltensauffälligkeiten oder Verzögerungen in der sprachlichen Entwicklung. Auch psychische Probleme wie Depressionen treten häufiger auf. „Diese Langzeitstudien sind immens wichtig, um die Versorgung der Kinder zu verbessern. Nur so können wir nachvollziehen, welche Maßnahmen nicht nur kurzfristig Leben retten, sondern auch auf lange Sicht gut für das Leben der Kinder sind“, sagt Blohm.
Noch vor der Geburt ansetzen
Mindestens genauso wichtig wie ein besseres Verständnis für die Spätfolgen und neue Behandlungsansätze ist aus Expertensicht die Prävention von Frühgeburten. Zwar ist die medizinische „Überwachung“ der Schwangerschaft in Deutschland und vielen anderen Industrienationen engmaschig.
Doch nicht immer werden die Warnzeichen für Frühgeburten rechtzeitig erkannt und entsprechende Gegenmaßnahmen ergriffen. Die gibt es nämlich durchaus: So hilft zum Beispiel ein regelmäßiger Ultraschall dabei, Veränderungen am Gebärmutterhals früh zu entdecken. In manchen Fällen kann ein Hormonpräparat oder niedrig dosiertes Aspirin das Risiko deutlich senken. Auch Infektionsvorsorge ist sehr wichtig.
Jeder weitere Tag im Mutterleib ist ein Gewinn für die Kinder. Während ihre natürliche Entwicklung weiter voranschreitet, können die Medizinerinnen und Mediziner die Kinder zudem besser auf eine zu frühe Geburt vorbereiten. Zum Beispiel wird den Kindern noch im Mutterleib Kortison gegeben. Das Hormon, das sonst in der Nebenniere gebildet wird, beschleunigt die Lungenreifung. Im Falle einer Geburt sind sie nun besser in der Lage, selbstständig zu atmen und brauchen weniger Hightechmedizin.
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