Umgang mit Falschbehauptungen: Fehlende Analyse
Nachrichtenjournalismus begreift sich oft noch als neutrale Bühne. Dadurch verpasst er, Falschaussagen politischer Figuren kritisch einzuordnen.
Wahlkampfzeit ist die Zeit der Polemik aus den hinteren Reihen. Während sich die Spitzenkandidat*innen der Parteien mit Chance auf Regierungsbeteiligung in allgemeingültigen Wohlfühlsätzen üben, versuchen politische Randfiguren durch Extremeres von sich reden zu machen. Dass Exkanzler Gerhard Schröder gerade die Currywurst bei VW retten will, ist da noch ein harmloses Beispiel. Gefährlicher, vor allem für den Journalismus, wird es, wenn politische Figuren in den Bereich der Falschaussagen treten. Denn dann laufen Medien Gefahr, sich instrumentalisieren zu lassen. Zumindest, wenn sie pflichtschuldig abbilden, anstatt kritisch einzuordnen.
Nehmen wir Friedrich Merz. Der CDU-Bundestagskandidat für den Hochsauerlandkreis hat am Wochenende folgendes getwittert: „Ein grünes,Einwanderungsministerium’ soll möglichst viele Einwanderer unabhängig von ihrer Integrationsfähigkeit nach Deutschland einladen. Die Gender-Sprache soll uns allen aufgezwungen und das Land überzogen werden mit neuen Verhaltensregeln, Steuern und Abgaben.“ Denselben Wortlaut verwendete Merz in seiner Focus-Kolumne. Darin stecken drei Tatsachenbehauptungen – also Aussagen, die falsch sein können und deshalb einen Beleg brauchen.
Erstens, dass „möglichst viele“ Einwanderer*innen eingeladen werden sollen. Zweitens, dass „Gender-Sprache“ aufgezwungen würde und drittens, dass das Land „überzogen“ werden würde mit Verhaltensregeln, Steuern und Abgaben. Das „Soll“ unterstellt dabei, dass ein konkreter Plan oder eine Absicht zumindest bei einflussreichen Grünen-Politiker*innen gegeben ist. Wäre Merz’ Aussage ein journalistischer Text, dann wären hier Belege nötig, die Merz nicht liefert. Es handelt sich um eine zur Unkenntlichkeit übertriebene Wiedergabe der tatsächlichen Grünen-Pläne, jedoch dargestellt als Fakt.
Journalistisch könnte das als „Falschbehauptung“ eingeordnet werden, als „Lüge“, „Übertreibung“ oder „Verzerrung“. Viele Medien hingegen unterließen eine solche Einordnung.
Ohne Einordnung
Zeit Online titelte, die CDU „polemisiere“ gegen die Grünen. Die Einordnung von Merz’ Behauptungen nimmt das Medium nicht selbst vor, sondern überlässt sie – vermeintlich neutral bleibend – zwei Grünen-Politiker*innen. Auch die Süddeutsche überlässt es den Grünen, Merz Lüge „vorzuwerfen“, anstatt dass die Zeitung die Aussage selbst einordnet. Die Rheinische Post titelt zurückhaltend, Merz habe sich „mit kritischen Tweets den Unmut der Grünen zugezogen“. Anders verhielt sich der Spiegel. Dessen Überschrift „Merz provoziert Grüne mit Falschaussagen in Tweet“ ordnet den Wahrheitsgehalt der Behauptungen für die Lesenden ein.
Häufig begreift sich der Nachrichtenjournalismus als neutrale Bühne, auf der Streits ausgetragen werden. Die Bewertung einer Aussage, selbst wenn sie hanebüchen ist, verortet man ins Reich der Meinung. Tatsächlich wäre es Sache eines Meinungbeitrags, Merz zum Beispiel „bewusstes Lügen“ oder „kalkulierte Hetze“ zu unterstellen. Über Beweggründe zu spekulieren hat in der Textgattung Nachricht wirklich nichts verloren. Ob eine Tatsachenbehauptung stimmt oder nicht, lässt sich hingegen faktisch ermitteln.
Im Juni sprach der CDU-Kandidat für den Wahlkreis Suhl/Schmalkalden, Hans-Georg Maaßen bei dem privaten Lokalfernsehsender tv.berlin zum Thema öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Maaßen sagte Folgendes: „Wenn man sieht, dass es da auch Verbindungen gibt zwischen der,Tagesschau' oder zwischen Personen, die für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und die ‚Tagesschau‘ arbeiten und der linken und linksextremen Szene, dann wäre das wirklich auch eine Untersuchung wert.“
Maaßens Ruf nach einem „Untersuchungsausschuss NDR“ ist dabei polemisch und möglicherweise populistisch – aber eine Meinungsäußerung. Eine Tatsachenbehauptung steckt hingegen im Nebensatz: Es gebe „Verbindungen zwischen der Tagesschau und der linksextremen Szene“, nebst der impliziten Unterstellung, dass diese Verbindungen in die journalistische Arbeit der „Tagesschau“-Redaktion führten. Journalistisch ließe sich das als „unbelegte Behauptung“, „fragwürdige Unterstellung“ oder wiederum als „Falschaussage“ einordnen.
Keine politische Haltung
Viele Medien wählten hier jedoch nicht die Tatsachenbehauptung als Hauptaugenmerk ihrer Meldungen, sondern Maaßens Forderung. Der Tagesspiegel fügte immerhin die Formel „ohne Belege zu nennen“ in die Unterzeile seines Artikels ein, erwähnte weiter unten, dass Maaßen nicht weiter auf die Unterstellungen habe eingehen wollen und nannte den CDU-Mann „umstritten“.
Viele andere Medien übernahmen eine Meldung der Deutschen Presse-Agentur, die reihenweise die fragwürdigen Aussagen Maaßens ohne eigene Einordnung wiedergab. Die Agentur ließ zwar viele Maaßen-kritische Stimmen zu Wort kommen. Fasste dann aber im Titel das Ganze als „Wirbel nach Maaßen-Kritik am öffentlich-rechtlichen Rundfunk“ zusammen. „Kritik“ wertet die Position Maaßens auf – während „Wirbel“ die aller anderen abwertet.
Das alles ist keine Frage von Meinung. Die Qualität oder den Wahrheitsgehalt einer Aussage zu benennen, ist nicht einmal eine Frage von politischer Haltung, sondern von journalistischer Analyse. Viele Redaktionen begreifen sich allein als ein „Austragungsort“ politischer Debatten. Aussagen werden wiedergegeben, Gegenstimmen eingeholt und das Ganze dann möglichst „neutral“ berichtet.
Populistische Strategien funktionieren in einem solchen Journalismus der „falschen Balance“ besonders gut. Das ist aus den letzten beiden US-Wahlkämpfen sowie aus der Präsidentschaft Donald Trumps bekannt. Aber auch aus der Coronapandemie. Gerade wenn fragwürdige Aussagen oder deren Inhalt direkt in Überschriften stehen, handelt es sich nicht um eine neutrale Wiedergabe dieser Aussagen, sondern um eine Verstärkung. Dasselbe gilt für scheinbar neutrale Begriffe wie „Kritik“, „Vorwurf“ oder „Provokation“.
Weich landen
Der Grünen-Politiker Boris Palmer etwa „provozierte“ bei der Welt bloß, als er im Mai Falschbehauptungen über den Fußballer Dennis Aogo verbreitete. Palmer hatte auf einen unbelegten Facebook-Kommentar verwiesen, in dem stand, Aogo habe für sich selber das N-Wort verwendet. Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht wird, wie viele andere linke Stimmen, immer wieder gerne mit Aussagen zitiert, es gebe Wünsche nach „Denkverboten“ in Debatten um Antidiskriminierung.
Populist*innen können sich sicher sein: Wenn sie beim Sich -aus-dem-Fenster-lehnen rausfallen, werden sie auf den Formulierungen der Medien weich landen.
Mehr etabliert hat sich das kritische Einordnen von falschen oder unbelegten Behauptungen inzwischen beim Thema Klima, bei der Pandemie und wenn es sich um prominente Mitglieder der AfD handelt. Polemiker*innen anderer Couleur hingegen agieren noch weitgehend unbehelligt.
Dieselben Standards
Zu den Aussagen Friedrich Merz’ sind im Laufe der Woche übrigens diverse „Faktenchecks“ erschienen. Dieses Format, das im Zuge der Fake-News-Debatte entstanden ist, ist positiv und hilfreich. Allerdings hat es mehrere Nachteile: Es erscheint meist zu spät und erst, wenn es bereits eine Debatte gibt und die mutmaßlichen Falschaussagen mehrfach geteilt wurden. Und: Es wird viel weniger gelesen – meist nur von denen, die gezielt danach suchen.
Nicht nur, aber gerade im Wahlkampf und gerade bei Nachrichten, die im Netz veröffentlicht werden, ist es deshalb wichtig, Falschinformationen gar nicht erst ohne Einordnung zu verstärken. Der journalistische Umgang mit Tatsachenbehauptungen Dritter sollte immer denselben Standards wie dem eigenen Content der Redaktionen entsprechen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit