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■ Ulm: Deutschlands unwirtlichste Stadt im WinterImmer einen Kittel kälter

In der kalten Winterzeit ist ganz Deutschland grau. Das heißt nein, ein Ort ist grauer als alle anderen; viel grauer: Ulm an der Donau! Die Stadt ist so dunkel, naßkalt und nebelverhangen, daß die schwachen Sonnenstrahlen meist gar nicht zu den Lebewesen auf dem Grund vordringen. Sie ersterben auf dem Weg zu ihrem Bestimmungsort, verenden einfach irgendwo in der über dem Gebiet hängenden Schlicksuppe, wie der Inhalt einer falsch gesetzten Spritze sich wirkungslos im zähflüssigen Fettgewebe eines kranken Körpers verläuft. Es ist ein Phänomen: Man muß die Stadt nur in irgendeine Richtung verlassen, schon nach wenigen Minuten ist alles wieder gut. Die Sonne scheint, das Leben ist schön...

Eingesessene Ulmer reagieren schwäbisch gelassen auf die bohrenden Fragen erschütterter Neulinge zu diesem Thema. Eine Spur zu gelassen vielleicht! Die Standardantwort: „Des hot mi no nie gestört, des Dreckwetter, des dreckerte...“ sagt ja eigentlich schon alles und weist auch auf jene inneren Widersprüche hin, mit denen der gemeine Ulmer zeit seines Lebens ringt.

Der Berliner schimpft auf Berlin, der Münchener mokiert sich gern über München, dem Frankfurter ist Frankfurt oft richtig peinlich – die Ulmer aber lieben ihre „Donaumetropole“, in der selbst der Sommer „immer einen Kittel kälter ist“ als anderswo. Unglaublich, was sie dafür in Kauf zu nehmen bereit sind: mindestens fünf lange Wintermonate, davon zwei bis drei praktisch ohne Tageslicht, zäher Nebel über Wochen hin und eine nasse, alles durchdringende Kälte, die Frühling und Sommer kaum jemals vollständig auszutrocknen vermochten.

Welch enorme Wirkung die lange lichtscheue Zeit auf die Menschen in dieser Stadt ausübt, ist nicht zu übersehen. An guten Tagen sind sie unwirsch und verdrossen. Dann ackern und rackern sie noch verbissener als sonst, um das Grauen zu vergessen.

An schlechten Tagen – Zwielicht, drei Grad plus, leichter Regen – könnte man jungen Psychologiestudenten mit einem Studienaufenthalt aufs trefflichste verdeutlichen, wie ein Melancholiker die Welt erleben mag, in der er nur sterben möchte. Meine Bäckerin etwa, sonst eine durchaus quirlige Frau von ausgesuchter Höflichkeit, ist in solchen Wochen nur noch eine Schwade ihrer selbst. Erfroren ist die gute Laune, ja alles Lebendige an ihr. Sie, die sonst unentwegt „Danke, derfs noch ebbes sei“, flötet, deren „Kundenfreundlichkeit“ die Grenze zur scheinbaren Untertänigkeit täglich frisch mißachtet, die Besorgtheit um das Wohlergehen ihrer Kunden gewöhnlich spielen kann wie keine andere – sie schweigt; verrichtet schleppend ihre Arbeit, gibt mechanisch Wechselgeld heraus und starrt dabei unentwegt ins Leere. Sie tut mir leid. Unwillkürlich ergreift mich der Wunsch, die Arme zu umarmen, still mit ihr zu weinen über den Klimastandort Ulm. Doch als ich in ihre Augen sehe, die sie nun erstmals auf mich richtet, weiche ich erschrocken zurück: „Raus! Verschwinde endlich!“ schreien sie verzweifelt. Ich verschwinde.

Doch wohin man sich auch wendet, es ist fast überall dasselbe. Wer sich trotzdem noch wohl fühlt, sollte dennoch böse Miene zum guten Spiel machen – gewissermaßen. Nur nicht angenehm auffallen, ist die Devise. Will man also zu ihnen gehören, sagt man eben nicht: „Klasse, bald wieder Wochenende!“, sondern röchelt ein heiseres: „Bleibsch au im Bett am Wochaend?“ Punkte macht man auch mit der bezüglich des Wetters wichtigsten Formulierung der Eingeborenen: „Do mechtsch futtzieha!“ Diese in der Regel häßlich gezischte Botschaft ist zunächst scheinbarer Ausdruck der Abscheu des Ulmers vor dem herrschenden Klima. Die Umstehenden reagieren darauf gewöhnlich auch mit einem schier endlosen Nickzwang, der stark an Hospitalismus erinnert. In Wahrheit jedoch versichern sie sich damit gegenseitig zu bleiben. Nur wenn sie jemand anderes wären, sagt die Botschaft, würden sie auf jeden Fall mit dem Gedanken spielen, wegzugehen. Will oder muß man bleiben, paßt man sich halt an den Lauf der Zeit, legt sich auch einen dieser Panzer aus Niedergeschlagenheit, leichter Dauererkältung und latentem Mißmut an. Irgendwie muß man sich durchschlagen an einem Ort ohne Sonne. Ist ja kein Weltuntergang. Schon nach ein paar Jahren hat man das Schlimmste überstanden. Da macht es einem dann gar nichts mehr aus, das Scheißwetter, das verfluchte. Philippe André

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