Ukrainist über Krieg und Frieden: „Tiefes Gefühl der Hilflosigkeit“
Der Greifswalder Ukrainist Roman Dubasevych sieht seine kulturwissenschaftlichen Analysen durch den Krieg bestätigt. Glücklich ist er darüber nicht.
taz: Herr Dubasevych, wie verändert der Krieg die ukrainistische Forschung?
Roman Dubasevych: Die Frage lässt unterschiedliche Antworten zu …
Sie hatten im März gesagt, die Grenzen zum Aktivismus würden durchlässiger.
Das bezog sich aufs zivilgesellschaftliche Engagement gleich nach Beginn des Angriffs, als man Hilfstransporte zu betreuen hatte und hier so viele Menschen ankamen, die man zum Arzt begleiten und für die man Übersetzungen erledigen musste. Da gab es eine Spannung zwischen dem Wunsch, Menschen zu helfen und sich den intellektuellen Herausforderungen zu widmen: Wie soll ich über den Krieg denken?
Und das tut nun der Forschungsverbund UNDIPUS – also „Undisciplined: Pluralizing Ukrainian Studies“?
Nein. Das ist ein bundesweiter Zusammenschluss aus sechs Projekten, die schon vor dem Angriff nationale Identitätskonstruktionen in der Ukraine kritisch zu untersuchen begonnen hatten.
Seit Februar finanziert ihn das Bundeswissenschaftsministerium. Eine Zeitenwende?
Natürlich nicht, das Projekt ist fast zwei Jahre gereift. Dennoch hatte die Vorstellung, dass mit diesem Krieg eine Zeitenwende eingetreten ist, ein sehr starkes Echo in meinem Fach gehabt: Es gab eine Reihe von Stimmen, die das Stichwort Dekolonisierung ins Spiel gebracht haben, im Sinne einer Dezentrierung der Slawistik, weg von der alles beherrschenden Russistik. Ich denke, jede Gesellschaft tut gut daran, ihre Ressourcen zunächst in Forschung und Aufklärung zu investieren, bevor sie Milliarden in Waffen steckt. Wenn wir dahin kommen – das würde ich natürlich voll unterstützen. Ich habe aber den Eindruck, dass es mitunter darum geht, russozentrische durch ukrainozentrische Forschung und imperiale durch ukrainische Nationalmythen zu überschreiben.
ist seit 2018 Junior-Prof. an der Uni Greifswald und Inhaber des Lehrstuhls für Ukrainistik. Seit 2022 koordiniert er den bundesweiten Ukraine-Forschungsverbund UNDIPUS. Promoviert 2017 mit einer Arbeit über die „Erinnerung an die Habsburgermonarchie in der ukrainischen Kultur der Gegenwart“ an der Uni Wien. Den Band „Sirenen des Krieges: diskursive und affektive Dimensionen des Ukraine-Konflikts“ hat er 2019 zusammen mit Matthias Schwartz im Kadmos-Verlag herausgegeben.
Das Wort „Zeitenwende“ wirkt ja selbst mythisierend: Es kappt die Vorgeschichte. Dagegen wirken im jetzigen Diskurs die in Ihrem Buch „Sirenen des Kriegs“ 2019 beschriebenen Narrative fort, zumal der gegenseitige Vorwurf genozidaler Bestrebungen. Ist das nicht schrecklich zu sehen, wie sich das bestätigt?
Es ist erschütternd. Als Wissenschaftler müsste man sich ja freuen, mit seinen Analysen und Prognosen richtig gelegen zu haben. Aber als Mensch? Diese Bestätigung der eigenen Ahnungen erzeugt ein tiefes Gefühl des Scheiterns und der Hilflosigkeit. Denn, auch wenn dieser Umstand nicht die gleiche Verantwortung bedeutet: Im gesellschaftlichen Klima beider Länder hatte sich die Kollision schon lange angekündigt.
Die verändert auch die Bilder, mit denen sich Gesellschaft reflektiert: Als Cover hatten Sie das Gemälde „Der Krieg eröffnet Möglichkeiten für Neonazis auf beiden Seiten“ des anarchistischen Künstlers David Chichkan gewählt, das die bilaterale Faschisierung infolge des Konflikts auf den Punkt bringt. Seine gegenwärtige Produktion wirkt dagegen fast patriotisch …
Das Tragische an jedem Krieg ist, dass er eine Dynamik der Dehumanisierung und des Hasses in Gang setzt, die eine paradoxe Symmetrie zwischen Täter und Opfer herstellt. David Chichkan war einer der wenigen ukrainischen Künstler, der diese Dialektik erfasste. Zugleich stehen die Kunstschaffenden in der Ukraine enorm unter Druck.
Weil auch der Konflikt durch den Einmarsch eindeutiger geworden wäre?
Natürlich schafft ein Krieg Eindeutigkeit. Jede Konfrontation tut das. Greif an oder stirb!, Flucht oder Attacke, die Mehrdeutigkeiten des zivilen Lebens verschwinden. Aber in der Sache macht der Krieg nichts eindeutig. Was es gibt, ist ein Diskurs der Eindeutigkeit – vonseiten der Falken.
„Krieg ohne Ende?“ Der taz Salon im Lagerhaus Bremen fragt am Mittwoch, 29. Juni, 19 Uhr, nach Perspektiven für einen Frieden in der Ukraine. Es diskutieren die Direktorin der Forschungsstelle Osteuropa, Prof. Susanne Schattenberg, Tamina Kutscher, Chefredakteurin der Internetplattform „dekoder.org – Russland entschlüsseln“ und Prof. Roman Dubasevych, tazler Benno Schirrmeister moderiert.
Sie halten dagegen die Bedeutung einer Position des Intellektuellen hoch, also jenseits von Schwarz-Weiß-Malerei?
Ja. Ich gebe zu, ich beobachte die Talkshows mit Erstaunen, weil darin, gerade von ukrainischer Seite, nur bestimmte Perspektiven vertreten sind. Es gibt ja auch andere Ideen in der Ukraine, wie der Ausweg aus dem Konflikt aussehen könnte. Man könnte auch Menschen zu Wort kommen lassen, die in der Opposition waren und deren Parteien und Medien jetzt verboten wurden. Ich fürchte, sie halten den Mund aus berechtigter Angst um die Konsequenzen.
Es gibt Anfeindungen?
Allein für ein paar warnende Kommentare vor dem Krieg auf Facebook schlug mir nicht nur eine Hasswelle entgegen, prompt wurde ich in einem Artikel der wichtigsten westukrainischen Nachrichtenplattform als Putinversteher und Befürworter der Kapitulation abgestempelt. Obwohl ich weder die Verantwortung des russischen Regimes noch seinen Militarismus bestritten habe.
Belasten solche Tabuisierungen auch die Forschung?
Ja. Es gab zu Beginn des Kriegs Kolleg*innen, die mich freundschaflich gewarnt haben: Roman, mit deiner Position schadest du der Ukrainistik und zerstörst auch deine eigene Reputation. Ich bin mir nicht sicher, ob diese sehr geschätzten Kolleg*innen jetzt genauso denken wie damals, Anfang März: Der russische Angriffskrieg hatte ein klares Urteil eingefordert, auf Basis von Völkerrecht und Ethik.
… die doch eindeutig sind?!
Ja, die sind eindeutig. In der internationalen Politik geht es aber auch um Fragen der Macht, des Einflusses, letztlich des guten Willens. Das Denken in absoluten Kategorien, auch des Guten, kann Desaster produzieren, wenn es um das Schicksal von Millionen Menschen geht. Fragt man die Menschen aus der Kampfzone oder auf der Flucht, würde man womöglich andere Töne als aus der Politik hören …
Trotz der exterminatorischen Verbrechen von Butscha?
Sie sind schlimm und machen sprachlos. Es ist klar, dass dort Kriegsverbrechen, wahrscheinlich Verbrechen gegen die Menschlichkeit, begangen wurden. Aber gewinnen wir etwas, wenn wir ihnen vorschnell einen genozidalen Charakter zuschreiben? Geht es hier um die Opfer oder um Skandalisierung?
Als Kulturwissenschaftler misstrauen Sie den Bildern?
Nein, sie sind wichtige Zeugnisse der Zerstörung und Wunden der ukrainischen Gesellschaft. Dennoch bedürfen sie einer Kontextualisierung. Es ist wichtig, sich klarzumachen, wie wir auf diese Verbrechen schauen, und wie wir sie in Beziehung zu anderen Schauplätzen setzen. Gerade in Deutschland, wo es das propagandistisch instrumentalisierte Bild der mordenden und vergewaltigenden russischen Soldaten gab, bedarf es einer besonderen Vorsicht. Man muss sich ständig fragen: Was soll das bewirken, wenn die westlichen Politiker*innen hinfahren und ihnen dann vor Ort die Zerstörung gezeigt wird?
Diese Fragen stehen sehr direkt in Verbindung mit Ihren Forschungen.
Ich habe mich damit beschäftigt, wie die politischen Handlungshorizonte durch historische Diskurse wie den Heroismus geprägt werden. Denn die stehen im Zentrum der ukrainischen Identität, vom Freiheitskampf der Kosaken übers Heldengedenken von Kruty und die nationalistische Guerilla-Armee der UPA bis zu den Cyborgs vom Prokofijew-Flughafen. Und sie wirken fort – bis dahin, dass man sagt: „Wir haben selbst vor einem Atomschlag keine Angst. Die Kosaken kapitulieren nicht. Wir gewinnen, weil wir bereit sind, alles zu opfern, Freiheit oder Tod.“
Wer sagt das?
Das wird von der ukrainischen Politik, von ihren höchsten Repräsentanten, von Wolodymyr Selensky selbst und seiner Entourage so ausgesendet, in die Öffentlichkeit.
Wobei es doch schien, dass Selensky nach Petro Poroschenkos offen russophober Politik für Entspannung stand?
Das schien uns allen so. Da waren wir alle zu optimistisch. In der Tat verzichtete er darauf, die Fragen der Sprache, Religion und das Militärische in den Vordergrund zu stellen. Stattdessen wurden Kontrollpunkte liberalisiert, Gefangene ausgetauscht, Brücken im Grenzgebiet zu separatistischen Gebieten gebaut …
Aber dann kam der Krieg?
Nein, es hat sich schon vorher gezeigt, dass Selensky mit diesem liberalen Vorgehen keine Basis hat. Es gab kein historisches Narrativ, auf das er sich hätte stützen können. Das ganze Feld war besetzt von Erzählungen eines heroischen Widerstandes und einer Traumatisierung durch den Krieg. Die haben eine normative Kraft entfaltet, die Schritt für Schritt Selensky einen Handlungskorridor vorgegeben haben, aus dem er nicht mehr hat ausbrechen können. Jeder Kompromiss, jede Annäherung, selbst jeder mildere Ton gegenüber Russland ist sofort mit unglaublicher Hetze beantwortet worden.
Klingt tragisch.
Ja, so sehe ich das: Es ist eine Tragödie shakespearianischen Ausmaßes von einem Hoffnungsträger, der aufrichtig Frieden bringen will – und sich dabei aufreibt zwischen einer realen Bedrohung durch einen aggressiven Nachbarn und einem entfesselten gesellschaftlichen Diskurs, der ihn schließlich auffrisst. Weil, und das ist die wirklich beklemmende Erkenntnis meiner Forschung, journalistische, wissenschaftliche und künstlerische Stimmen fehlten, die seine liberale, friedensstiftende Politik durch einen Gegendiskurs hätten festigen können.
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