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Ukrainische Schule in GeorgienUnterricht fern von zu Hause

In Georgien öffnet eine Schule für etwa 200 geflüchtete Kinder und Jugendliche aus der Ukraine. Sie brauchen nicht nur den üblichen Lernstoff.

Schuldirektorin Olena Kucharewska (links) bei der Schuleröffnung Foto: privat

Tiflis taz | „Wie lautet das zweite Newtonsche Gesetz?“, schreibt die Physiklehrerin und Schuldirektorin Olena Kucharewska an die Tafel. In dem sonnendurchfluteten Klassenzimmer mitten in Georgien sitzen 13 Kinder aus der Ukraine. Alle haben sich erst vor einer Woche kennengelernt.

Mitte April hat in der georgischen Hauptstadt Tiflis die Schule Nr. 41 „Michail Hruschewski“ (ein bedeutender ukrainischer Historiker; Anm. d. Red.) eine ukrainische Sektion eröffnet. Morgens kommen georgische Schüler*innen, nach ein Uhr mittags ukrainische. Die meisten von ihnen sind Geflüchtete aus der Ukraine.

Kucharewska erinnert sich daran, dass sie nach dem Ausbruch von Russlands Krieg gegen die Ukraine keine Sekunde gezweifelt habe, wohin sie gehen würde: „Ich war schon oft in Georgien und habe mir gesagt, dass das ein Ort ist, an dem ich neue Kraft tanken könnte.“

Am 20. März kam sie in Georgien an. Zu Hause in Kiew leitete sie eine Privatschule. Als sie erfuhr, dass es in Tiflis bereits von 1996 bis 2011 eine ukrainische Schule gegeben hatte, beschloss sie, wieder eine zu eröffnen und stellte ein entsprechendes Formular ins Netz. Drei Stunden später gab es schon 70 Anmeldungen.

Hilfe von der Russischen Schule im Ort

Viel Unterstützung erfuhr Direktorin Olena Kucharewska von der ukrainischen Diaspora und dem georgischen Bildungsministerium. Sie zahlen die Gehälter der Lehrkräfte. Auch verschiedene Privatfirmen engagieren sich. Ihnen ist es zu verdanken, dass die ukrainischen Kinder in der Schule verpflegt werden, was in Georgien nicht üblich ist.

Auch die örtliche Russische Schule half und spendete vier Notebooks und einen Drucker. Daten der letzten offiziellen Volkszählung zufolge lebten 2014 in der Südkaukasusrepublik Georgien rund 6.000 Ukrainer*innen.

Laut Kucharewska wurde der gesamte ukrainische Lehrplan übernommen. Derzeit gibt es an der Schule 22 Leh­re­r*in­nen und 200 Schü­le­r*in­nen. Jeden Tag werden es mehr. Aber der Unterricht gestaltet sich schwierig. „Als wir uns vor der Eröffnung der Schule mit den Lehrkräften zusammen gesetzt haben, sind wir zu dem Schluss gekommen, dass die Vermittlung von Wissen wichtig ist. Aber unsere wichtigste Aufgabe ist doch jetzt, dafür zu sorgen, dass die Kinder psychologisch gut betreut werden. Deshalb müssen wir zunächst einmal mit ihnen in Kontakt kommen und erst dann beginnt das Lernen“, erklärt die Schuldirektorin.

Die Eröffnung dieser Schule wurde in Georgien zu einem großen Ereignis. Sie war einer der wenigen Schritte der georgischen Regierung, der nach dem Beginn der russischen Angriffe auf die Ukraine in der Bevölkerung auf ungeteilte Zustimmung stieß. Bis dahin hatten sich die georgischen Machthaber viel Kritik eingefangen, weil sie sich unter anderem geweigert hatten, Wirtschaftssanktionen gegen Russland zu verhängen.

Am Grenzposten drangsaliert

In der ersten Woche berichteten etwa zehn verschiedene TV-Kanäle über die neue Schule. So viel Aufmerksamkeit auf einmal sei sowohl für die Kinder als auch für die älteren Schü­le­r*in­nen zu einer großen Herausforderung geworden, erzählt Kucharewska. Die Mehrheit der Geflüchteten komme aus der Ostukraine. Sie seien über Russland nach Georgien gekommen und nicht bereit, darüber zu sprechen.

Auch die 29-jährige Anastasia Jakowlewa ist über Russland nach Georgien gekommen und unterrichtet nun ukrainische Literatur. Früher habe sie nur an der Universität unterrichtet, jetzt arbeite sie zum ersten Mal mit Kindern, sagt sie. In den vergangenen Jahren habe sie in Moskau gelebt, wo sie ein anderes Business gehabt hätte: Sie habe mit Pflanzendünger gehandelt. Bei ihrer Ausreise aus Russland sei sie von Grenzbeamten verhört worden.

„Als ich dort ankam, war mir klar, dass es für immer sein würde. Ich werde nie wieder einen Fuß in dieses Land setzen. Sie fragten, ob ich Nazi-Verwandte hätte und überprüften mein Telefon“, berichtet Anastasia Jakowlewa. Ihr zufolge hätten viele ihrer Schü­le­r*in­nen weitaus schlimmere Erfahrungen gemacht. Die Eltern seien grob behandelt und beleidigt worden. Aus diesem Grund sei sie doppelt vorsichtig.

„Als ich zur Schule ging, haben wir noch nach sowjetischen Regeln gelernt. Wir hatten Angst, zu sprechen. Aber diese Kinder sind anders. Sie brauchen Aufmerksamkeit und sie haben keine Furcht, das auch zu zeigen“, sagt Anastasia Jakowlewa und öffnet die Tür des Klassenzimmers.

Stark wie eine Kampfdrohne

Hier, in der siebten Klasse, sitzen fast 30 Jugendliche. „Ich heiße Nika, aber in Georgien ist das ein männlicher Vorname und die Leute wundern sich dann immer. Deshalb stelle ich mich meistens als Veronika vor“, sagt ein Mädchen. Und ein Junge erzählt: „Hier gibt es so viele Hunde, und für den Aufzug muss man bezahlen. Auch das Essen ist anders, viel salziger.“ Mit einem Grinsen erinnert er sich daran, dass er manchmal für einen Russen gehalten werde: „In solchen Momenten will niemand mit mir sprechen, aber dafür bin ich sogar dankbar.“

Auf die Frage, wie ihre Herfahrt verlaufen sei, fallen die Antworten eher knapp aus. Ein Mädchen beginnt zu weinen und verlässt den Raum. Plötzlich herrscht eine unangenehme Stille. „Deshalb haben wir Angst vor Journalist*innen“, sagt Jakowlewa, nachdem sie das Mädchen beruhigt hat. Ein Junge habe in einem Aufsatz zu der Frage ‚Wer bin ich‘ geschrieben: Ich bin stark wie ein Bayraktar (türkische Kampfdrohne; Anm. d. Red.) und ich werde Russen töten.“

Die Neuropsychologin Leila hilft den Schüler*innen, ihre Emotionen zu verarbeiten. Auch Leila ist aus der Ostukraine und über Russland nach Georgien gekommen, zusammen mit ihrem zehnjährigen Sohn. Sie möchte weder ihren Nachnamen noch ihre Heimatstadt öffentlich preisgeben, um ihre alten Eltern zu schützen, die dort geblieben sind.

An diesem Tag hätten schon drei Schü­le­r*in­nen Panikattacken bekommen, berichtet die Neuropsychologin. „Bei den Kindern aus Mariupol und Cherson ist die Situation in ihren Familien besonders schwierig. Manchmal weinen die Eltern ununterbrochen, weil die Nerven nicht länger mitmachen. Der eine sagt, er sei ein Bayraktar, der andere hat Angst. Er will sich verstecken, zieht sich eine Kapuze über den Kopf und setzt eine Maske auf, sodass für die Augen nur noch ein Schlitz bleibt.“

Angst vor einem weiteren russischen Angriff

Wie hilft sie den Kindern dabei, mit ihrem Stress umzugehen? „Ich habe da eine Art geheimen Schlüssel und sage: Ich bin genauso wie du. Ich bin auch über Russland gekommen und weiß, was jetzt in dir vorgeht. Und dann rede ich darüber. Meistens öffnen sich die Kinder, weil sie verstehen, dass sie nicht allein sind“, erklärt sie.

Leila sagt, dass die Ge­or­gie­r*in­nen solidarisch seien und viele ihre Trauer teilten. Sie freue sich über die Aufmerksamkeit der Einheimischen und darüber, dass sie ukrainische Fahnen in dieser Zeit auf den Straßen sehe.

Seit dem Beginn des Krieges am 24. Februar hat es in Georgien viele Solidaritätsaktionen gegeben. Insgesamt wurden mehr als 400 Tonnen Hilfsgüter gesammelt.

Immer noch ist der Krieg von 2008 zwischen Russland und Georgien in den Köpfen der Bevölkerung allgegenwärtig. 85 Prozent der Ge­or­gie­r*in­nen haben Angst vor einem russischen Angriff, ergab eine Umfrage der US-Institution National Democratic Institute for International Affairs (NDI) vom 20. April 2022.

Hoffnung auf Rückkehr in die Ukraine

Aber es gibt auch ukrainische Schüler*innen, die jeden Kontakt ablehnen. 11. Klasse, Chemieunterricht: An den Tischen sitzen drei Personen. Dass jetzt, nach dem Regen, Ozon freigesetzt wird, interessiert sie überhaupt nicht. Rita, Lisa und Taras sind 17 Jahre alt. Sie sind Ab­itu­ri­en­t*in­nen, und das Wichtigste für sie ist der Glaube daran, dass sie im Herbst an einer ukrainischen Universität ihr Studium aufnehmen werden.

Die beiden jungen Frauen kommen aus Kiew, Taras aus der Kleinstadt Wolyn. Sie hatten Glück – ihre Eltern konnten die Ukraine frühzeitig verlassen. Sie sind über Polen nach Georgien geflogen. Trotzdem war der Umzug schwierig und es fällt ihnen jetzt auch schwer, sich an die neue Situation und die ungewohnte Umgebung anzupassen.

Fühlen sie sich sicher? „Nein. Jetzt fürchte ich mich mehr vor georgischen Männern als vor den Russen“, sagt Rita. In Tiflis, in Parks und Cafés setzten sich ständig fremde Männer neben sie. In Kiew sei es ihr viel leichter gefallen, klarzumachen, dass sie nicht reden wolle.

Wie steht sie zu den Russen? „Sie nur zu töten, wäre zu einfach“, sagt Rita. Sie erzählt, dass sie und ihre Freun­d*in­nen zu Anfang des Krieges Nachrichten auf Telegram erhalten hätten. Ihnen sei Geld angeboten worden, wenn sie einige Informationen über die Situation in der Stadt lieferten.

Übriges: Bald sollen die ukrainischen Schü­le­r*in­nen die Möglichkeit bekommen, ihre georgischen Al­ters­ge­nos­s*in­nen besser kennenzulernen. Der 62-jährige Maklhaz Kurtanidze, der Sport unterrichtet, bereitet gerade gemeinsame Stunden vor. Das ist keine leichte Aufgabe. Zuerst muss er herausfinden, welche Kinder überhaupt in der Verfassung sind, um zu trainieren, dann muss er einen Zeitplan erstellen.

Mit der Ukraine verbindet ihn viel. Er hat dort mehrere Jahre verbracht und Fußball gespielt, auf der Position eines linken Mittelfeldspielers. „Wir versuchen, alles zu tun, damit sie sich hier wie zu Hause fühlen“, sagt er. „Aber jeder Mensch kann nur ein Zuhause haben.“

Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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