Ukrainische Juden in Deutschland: Zwischen Wut und Hilflosigkeit
Knapp die Hälfte der Juden in Deutschland hat ukrainische Wurzeln. Unabhängig von Generation und Wohnort fühlt sich der Krieg für sie sehr nah an.
L aut Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland haben 45 Prozent der Mitglieder der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland Wurzeln in der Ukraine. Für viele Jüdinnen und Juden in Deutschland ist der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine sehr nah. Sie fürchten um Familie, Freunde und Bekannte.
Aufgrund des Krieges, der humanitären Lage in der Ukraine sowie Deutschlands historischer Verantwortung hat die Bundesregierung die erleichterte Aufnahme von Jüdinnen und Juden und ihren Familienangehörigen beschlossen. Ziel sei, dass Ukrainer mit jüdischen Wurzeln „unter erleichterten Bedingungen und unter Beteiligung der jüdischen Gemeinden an dem Verfahren der jüdischen Zuwanderung teilnehmen können“, heißt es aus dem Bundesinnenministerium.
„Ich kann nicht schießen, ich kann nur lesen“
Marat Dickermann ist 1946 in Kyjiw geborboren. Er ist Musiker und lebt in Frankfurt am Main.
Ich kann überhaupt nicht verstehen, dass dieser Krieg in der Realität abläuft. Wenn ich Bilder im Fernsehen sehe oder mit meiner Verwandtschaft in Kyjiw telefoniere, tut mir das Herz weh. Und gleichzeitig packt mich eine Wut. Die Menschen sterben und man selbst kann ihnen überhaupt nicht helfen. Das macht mich krank. Ich kann kein Gewehr nehmen und in die Ukraine fliegen und schießen. Ich kann nur lesen, Nachrichten gucken.
Was mich freut, ist, dass die ganze Welt solidarisch mit der Ukraine ist. In Frankfurt, wo ich lebe, gab es schon mehrere Demonstrationen. Menschen, die nichts mit der Ukraine zu tun haben, Deutsche und Menschen anderer Nationalitäten zeigen ihre Solidarität. Ich finde das großartig.
Die Sanktionen gegen Russland gehen mir aber nicht weit genug. Ich würde lieber frieren in Deutschland, als noch weiter Öl und Gas bei den Russen zu kaufen. Leider ist Deutschland in dieser Beziehung schon vorher schwach gewesen. Der erste Fehler war, dass man nach der Annexion der Krim Sanktionen gegen Russland versprach, ein Jahr später aber Nord Stream 2 gestartet ist. Das ist doch lächerlich.
Meine Tochter erzählte, dass jemand, der in einem Supermarkt auf Russisch telefonierte, deshalb angeschnauzt und angeschrien wurde. Die Person hat dann angefangen deutsch zu sprechen.
Es tut mir leid, aber ich kann das verstehen. Da ist diese Wut. Wenn ich auf der Straße bin, spreche ich mit meiner Frau nur noch Deutsch. Ich kann mir ja kein Schild umhängen, auf dem steht: Ich spreche Russisch, aber ich komme aus der Ukraine.
Ich habe ein Bild von der in der Schlucht Babij Jar errichteten Menorah gesehen, sie ist jetzt zum Teil zerstört. Genau dort an dieser Menorah habe ich mit meinem Streichquartett 1991 gespielt. Diese Zerstörungen sind ein Verbrechen ohnegleichen. Nur ein einziger Mensch hat das befohlen – Putin. Das russische Volk aber wird noch über Jahrzehnte überall verspottet und verachtet werden.
„Mittlerweile ist der Krieg schon Alltag geworden“
Anna Kushnir wurde 2000 geboren im Odenwaldkreis. Sie studiert Kommunikationswissenschaften und lebt heute in Hanau.
Die ersten Tage des Krieges war ich mit Freundinnen in Berlin. Zurück bei meinen Eltern, fühlte ich mich, als wäre ich vom Lastwagen überrollt worden. Der Krieg wurde viel realer. Wenn die eigene Mutter sich Sorgen macht und du stehst daneben als 22-Jährige und kannst nichts tun, dann fühlst du dich hilflos.
Meine Eltern kommen aus der Stadt Dnipropetrowsk, der viertgrößten Stadt der Ukraine, als Kind war ich oft dort. Ich erinnere mich auch an einen Sommer auf der Krim. Urlaub auf der Krim: Ich habe noch erlebt, dass das geht. Meine kleine Schwester kennt nur eine Ukraine, in der man nicht mehr auf die Krim reisen konnte. Und jetzt herrscht plötzlich Krieg in einem Land, in dem man früher Urlaub gemacht hat, in dem deine Eltern aufgewachsen sind. Das ist unvorstellbar.
Meine Eltern und ich haben angefangen Kontakt aufzunehmen in die Ukraine, zu Bekannten, zu Freunden von meinen Eltern. Meine Mutter hat einen großen russischsprachigen Freundeskreis. Alle haben Angst. Der ist Krieg ist plötzlich nah, obwohl er doch eigentlich weit weg ist.
Meine kleine Schwester geht noch zur Schule. Also versuchen wir zu Hause einen möglichst schönen Alltag zu gestalten. Trotzdem ist man dauernd am Handy, checkt, was gerade passiert. Man telefoniert, versucht zu helfen. Seit ein paar Tagen ist eine Freundin meiner Familie aus der Ukraine mit ihren kleinen Kindern bei uns. Es ist komisch: Irgendwie ist man glücklich, dass sie hier und in Sicherheit sind. Aber gleichzeitig weiß man, dass die Eltern der Freundin noch in der Ukraine sind, ihr Mann dort ist. So viele Menschen sind noch dort und man kann nichts machen.
Mittlerweile kommt es einem vor, als dauert der Krieg schon eine Ewigkeit. Er ist Teil vom Alltag geworden. Man läuft hier durch die Straßen und sieht überall ukrainische Flaggen. Einerseits ist es schön, dass so viele sich solidarisch zeigen und versuchen etwas zu tun. Aber andererseits ist es unfassbar traurig, dass das überhaupt sein muss. Es gibt gerade nichts anderes, als zu hoffen. Auch, dass die Solidarität langfristig bleibt. Denn es werden noch mehr Flüchtlinge kommen.
„Jahrelang hat man uns nicht geglaubt“
Irina Bondas wurde 1985 in Kyjiw geboren. Sie lebt in Berlin und arbeitet als freiberufliche Konferenzdolmetscherin, Übersetzerin, Autorin und Moderatorin.
Donnerstagmorgen um fünf Uhr habe ich über soziale Medien mitgekriegt, dass die ersten Explosionen in Charkiw und Kyjiw zu hören waren. Seitdem fühlt es sich für mich an wie ein einziger Tag, der nicht aufhören will.
Begreifen, dass ein Ereignis eingetreten ist, vor dem man lange Angst hatte und das so unmöglich schien, kann ich nicht, denn dann kommt schon wieder die nächste Nachricht. Das macht etwas mit dir, wenn du die Orte kennst, die zerstört werden. Die Welt wird für mich und für viele andere nie mehr so eine sein, wie sie einmal war.
Ich habe meine Familie zwar hier in Deutschland, aber Freund:innen und Kolleg:innen in der Ukraine. Zeit zum Trauern um Freund:innen oder um Dinge, die ich aus der Kindheit kenne, habe ich keine. Es ist für mich unmöglich in dieser Situation an mich zu denken oder gar an konkrete Menschen. Ein ganzes Land ist gerade in einem Überlebensmodus, weil keine und keiner wirklich sicher ist. Überhaupt niemand. Das ist eine Katastrophe, die vor niemanden hält.
Ich bin sehr froh, dass ich in einer Gesellschaft lebe, in der Menschenrechte etwas bedeuten. Das zeigt auch die breite Solidarität in Deutschland. Ein Gegenbeispiel ist Russland, wo gerade eine Minderheit versucht zu protestieren, aber gleichzeitig effektiv unterdrückt wird.
Persönlich erfahre ich sehr viel Solidarität. Ich hätte sie mir aber 2014 schon gewünscht – nach den Ereignissen auf dem Maidan und nach der Annexion der Krim. Damals hieß es, da werden legitime Interessen Russlands vertreten. Diese Meinung war verbreiteter und akzeptierter als Solidaritätsbekundungen.
Was wir gerade erleben, kennen wir, kennen die Oppositionellen, die kritischen Osteuropa-Expert:innen. Wir haben darüber jahrelang geredet. Jahrelang hat man uns nicht geglaubt. Wir haben immer mit einem Krieg rechnen müssen. Das scheinen die Deutschen um uns herum nicht mitgekriegt zu haben.
Die Explosion bei Babij Jar hat im Zuge dieser Zerstörung symbolischen Charakter. Diese Angriffe treffen die jüdische Bevölkerung, aber sie treffen auch alle anderen. Sie sind willkürlich und richten sich damit gezielt gegen alles Menschliche und alles Freiheitliche; gegen alles, was Pluralität zulässt. Es geht um die totale Vernichtung der Bevölkerung, wenn es sein muss, auch der eigenen. Und das passiert vor dem Hintergrund der russischen Rhetorik, den Faschismus zu bekämpfen.
Die Ukraine ist auf sich allein gestellt, sie muss sich jetzt wehren. Die Menschen werden bis aufs Letzte kämpfen. Ich habe Angst, dass sie danach nicht einmal Respekt dafür bekommen werden. Die Europäer:innen mögen nämlich keine wehrhaften Menschen, die sich zu verteidigen wissen.
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