piwik no script img

Chor im „Ukraine Haus Hamburg“: ein rauer und traditioneller Gesang Foto: Miguel Ferraz

Ukrainische Geflüchtete in HamburgWeil kein Frieden in Sicht ist

In Hamburg hat die ukrainische Community nun ein eigenes Haus: Geflüchtete sollen sich hier ablenken können – mit Zumba, Chor und Klavierstunden.

Von Marta Ahmedov aus Hamburg

E ins, zwei, drei, vier!“, schreit Bogdana Dzis und ein halbes Dutzend Frauen versucht hektisch, ihre Bewegungen vor dem Spiegel nachzumachen. Rechter Fuß vor, linker Fuß vor, zur Seite und drehen, dabei die Arme nicht vergessen. Die Choreografie wird immer schneller, inzwischen machen alle etwas Unterschiedliches. Als der Song vorbei ist, keuchen sie erschöpft und müssen lachen. Dzis gibt Natalya, die direkt hinter ihr steht, einen Handschlag. „Gut gemacht!“ Sie strahlt die Runde an. „Zumba ist wichtig, um auch in diesen Zeiten entspannt und gesund zu bleiben!“

Es ist ein Montagabend im „Ukraïne Haus Hamburg“. Offiziell hat die Einrichtung noch nicht eröffnet, aber jetzt schon treffen sich hier ukrainische Frauen an drei Abenden in der Woche zum Zumba. Heute sind es sieben, insgesamt hat die Gruppe 15 Mitglieder, erzählt Trainerin Dzis. Sie kam im Frühling 2023 mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Hamburg. „Seit ich sechs Jahre alt bin, tanze ich. Das wollte ich hier weitermachen und es Frauen anbieten, die auch unter dem Krieg leiden und etwas Gutes für sich tun möchten.“

Wenn über ukrainische Geflüchtete oder den Krieg berichtet wird, dann in der Regel nur über Leid, Schmerz und Verzweiflung. Und tatsächlich entspricht das der Realität des Krieges. Aber niemand kann permanent in einem solchen Zustand leben. Im Ukraïne Haus Hamburg dürfen Menschen, die seit dem 24. Februar 2022 die Hölle durchmachen, einfach mal nur darüber lachen, dass sie beim Zumba nicht die richtige Schrittreihenfolge geschafft haben. Sie dürfen in Hamburg ankommen und die menschlichen Grundbedürfnisse stillen, die über eine bloße Unterkunft und Essen hinausgehen: soziale Gemeinschaft, Kultur, Hobbys.

Die Einrichtung ist ein Projekt des Norddeutsch-Ukrainischen Hilfsstabs. Der Hilfsstab gründete sich am ersten Tag des Krieges. Ukrainer*innen, die schon länger in Hamburg lebten, versammelten sich an diesem Tag spontan zur Demonstration vor dem russischen Generalkonsulat an der Alster. Nach der Kundgebung tauschten sie Kontaktdaten aus und verabredeten sich für ein Treffen. Es war eine dieser seltenen, besonderen Situationen, in denen alle Beteiligten wussten: Jetzt zählt es.

Viele Ukrai­ne­r*in­nen wollen endlich ankommen

In den ersten Tagen und Wochen des Krieges nahmen viele Urlaub von der Arbeit, um rund um die Uhr Hilfe für die vielen Geflüchteten zu leisten, die in vollen Zügen am Hamburger Hauptbahnhof ankamen. „Wir hatten in dieser Zeit dreimal pro Tag Lagebesprechungen per Zoom“, erzählt Andriy Terletskyy, der heute Vorstandsvorsitzender des Hilfsstabs ist. „Es ging darum, sehr schnell effiziente Strukturen aufzubauen, um den ankommenden Ukrai­ne­r*in­nen Unterkünfte und An­sprech­part­ne­r*in­nen zu organisieren.“

Damals gab es noch die Hoffnung, dass der Krieg sehr schnell vorbeigehen würde. Diese Hoffnung verschob sich immer weiter nach hinten. Jetzt, fast zwei Jahre nach Kriegsbeginn, ist kaum ein Ende in Sicht. Es geht nicht mehr nur darum, akute Nothilfe zu leisten, sondern viele Ukrai­ne­r*in­nen wollen endlich ankommen. Sie können nicht mehr darauf hoffen, nur noch kurz und vorübergehend hier bleiben zu müssen und bald in ihr gewohntes Leben zurückkehren zu können.

Diese Erkenntnis ist vielleicht der schwerste Teil einer Flucht. Und mit der Zeit häuften sich deshalb die Fragen von geflüchteten Ukrai­ne­r*in­nen an Terlets­kyy und sein Team vom Hilfsstab: Wo kann ich meine Kinder nachmittags hinschicken? Wo kann ich mich mit anderen Ukrai­ne­r*in­nen treffen? Gibt es einen Ort, an dem wir Freizeitaktivitäten nachgehen können? „Wir standen von Anfang an immer in engem Austausch mit der Sozialbehörde“, sagt Terletskyy, „und haben deshalb dort angebracht, dass wir gerne Räume hätten, um unserer Gemeinde solche Angebote bieten zu können.“

Die Planungen begannen schon Ende 2022. Im Herbst 2023 wurden dann endlich die Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt. Der Hilfsstab bezieht diese vom städtischen Unternehmen „Fördern und Wohnen“, die Kosten übernimmt die Sozialbehörde. „Das große Engagement der ukrainischen Gemeinde war wirklich herausragend und eine große Hilfe für die Stadt“, sagt dazu Susanne Schwendtke, Sprecherin von Fördern und Wohnen. „Das wollen wir gerne fördern.“

Die Fläche des Ukraïne Hauses umfasst insgesamt etwa 350 Quadratmeter. Von einem großen Raum vorn führt ein breiter Flur ab. Daneben liegen mehrere kleinere Zimmer, in denen später einmal auch parallel Kurse stattfinden sollen: ein Kreativzimmer, ein Spielzimmer für Kinder, ein Unterrichtsraum etwa für Deutschkurse und Abstellräume für Material. Insgesamt sieht es noch sehr nach einer Behörde aus: Tatsächlich ist die Einrichtung an eine große Unterkunft für 1.200 ukrainische Geflüchtete in der ehemaligen Postbank in der City Nord angegliedert. Sie ist aber auch für die Öffentlichkeit zugänglich und wird von vielen Ukrai­ne­r*in­nen genutzt, die nicht in der Unterkunft leben. Auch die nicht ukrainische Öffentlichkeit soll sich willkommen fühlen.

„Wir wünschen uns, dass das Ukraïne Haus als eine Art Inkubator für ukrainische Initiativen und Projekte wirken kann“, sagt Terletskyy. Alle Ideen seien hier willkommen: Musik- und Theatergruppen, soziale Projekte, Deutschkurse, Sportangebote, aber auch einzelne Veranstaltungen und Workshops. „Wir setzen bewusst keine Grenzen oder einen klaren Rahmen, weil wir allen Ideen einen Raum geben wollen“, betont Terletskyy.

Erste Ansprechpartnerin für Interessierte ist die 23-jährige Sofiia Tomakh. Sie kommt ursprünglich aus Charkiv in der Ukraine und ging vor vier Jahren für ihr Marketing-Studium nach Polen. Mitte 2023 kam sie nach Hamburg, ihre Mutter und Großmutter kamen schon im März 2022 nach Ausbruch des Krieges hierher. „Ich fühle eine große Verantwortung, etwas für mein Land und meine Leute zu tun“, sagt sie. Deshalb habe sie den Kontakt zur ukrainischen Gemeinde gesucht und den Norddeutsch-Ukranischen Hilfsstab gefunden.

Geflüchtete sollen hier den Krieg im Heimatland für eine Zeit hinter sich lassen und Ablenkung finden Foto: Miguel Ferraz

Der neue Ort hat sich schnell rumgesprochen: In den letzten Monaten klingelte das Telefon von Sofiia Tomakh häufig und es meldeten sich Personen, die ein Projekt im Ukraïne Haus umsetzen wollen. Schon jetzt, vor dem offiziellen Start der Einrichtung, finden verschiedene Angebote statt: Neben Zumba gibt es auch Yoga- und Qigong-Kurse, außerdem Klavierstunden, Kreativunterricht für Kinder und ein Pfadfinder-Treffen. Alle Kurse werden auf Ukrainisch gegeben. Außerdem ist das Radio „UVoice“ an die Einrichtung angegliedert, das an drei Tagen pro Woche Nachrichten aus Hamburg und Norddeutschland auf Ukrainisch und Deutsch sendet.

Am Samstag, eine Woche vor Weihnachten, ist internes „Kick-off“ im Ukraïne Haus Hamburg vor der Eröffnung im neuen Jahr: Heute wollen die Or­ga­ni­sa­to­r*in­nen ihrer Community vorstellen, woran sie in den letzten Monaten gearbeitet haben. Sofiia Tomakh ist aufgeregt. Gestern hat sie noch bis spät in den Abend gearbeitet, um alles vorzubereiten. Über 50 Gäste kommen heute in die Räume in der City Nord. Viele von ihnen waren vorher schon einmal dort, es ist der innere Kreis aus Mitgliedern des Norddeutsch-Ukrainischen Hilfsstabs. Unter ihnen sind etwa die ukrainische Generalkonsulin für Norddeutschland, Iryna Tybinka, Zumba-Lehrerin Bodgana Dzis sowie Chor­sän­ge­r*in­nen und Mitglieder vom UVoice-Radio.

Ein ungewohnter Anblick in Deutschland

Alle nehmen im größten Raum Platz. Sofiia Tomakh begrüßt die Gäste und stellt das Programm vor. Darunter auch zwei ukrainische Chöre: Die Sängerinnen im ersten Chor tragen traditionelle Wyschywanka-Blusen und bunte Tücher mit Blumenmustern, sogenannte Hustkas, um die Schultern. Als sie singen, klingt es nach einem Klagelied. Die zweite Gesangsgruppe besteht ebenfalls nur aus Frauen. Sie tragen ukrainische Trachten und ihr Gesang ist rauer und traditioneller.

Es ist ein Anblick, der in Deutschland ungewohnt ist: Ein Zentrum zur Förderung und Bewahrung der traditionellen deutschen Kultur hätte einen nationalistischen Beigeschmack. „Aber Russland möchte die ukrainische Sprache und die ukrainische Kultur auslöschen. Hier kämpfen wir aktiv dagegen an“, sagt dazu Iryna Tybinka. Die eigene Kultur in Kriegszeiten bewahren, das sei ein natürlicher Akt des Widerstands.

Die Debatten über übermäßigen Nationalismus der Ukrai­ne­r*in­nen werden oft über sie statt mit ihnen geführt

Übermäßiger Nationalismus ist dennoch ein Vorwurf, der in Deutschland oft an Ukrai­ne­r*in­nen gerichtet wird – sei es in der Debatte um den ehemaligen ukrainischen Botschafter Andriy Melnyk, um das rechtsextreme Asow-Regiment oder um das Gedenken an den Nationalisten Stepan Bandera.

Diese Debatten werden oft über Ukrai­ne­r*in­nen geführt statt mit ihnen. Wenn man mit den Menschen im Ukraïne Haus Hamburg spricht, wird klar, dass es ihnen nicht um eine nationalistische Abgrenzung geht. Für sie steht im Vordergrund, dass das Ukraïne Haus ein Ort der Gemeinschaft sein soll. „Es ist sehr hart, wenn man hier ankommt, ganz alleine ist und niemanden kennt“, sagt die 20-jährige Sofiia Melnyk, die seit eineinhalb Jahren in Deutschland lebt und sich auch im Organisationsteam engagiert. „Ich habe das selbst erlebt und möchte dafür sorgen, dass andere Ukrai­ne­r*in­nen schneller in Hamburg Anschluss finden können.“

Entscheidend ist für die In­itia­to­r*in­nen auch, dass sie sich Austausch und Begegnungen mit Menschen außerhalb ihrer Community wünschen. „Das Haus ist ganz wichtig, um die Integration von Ukrai­ne­r*in­nen in die deutsche Gesellschaft zu fördern“, sagt Iryna Tybinka. „Es geht nicht darum, sich abzuschirmen, im Gegenteil!“

Und schließlich ist nicht alles im Ukraïne Haus traditionell ­ukrainisch: Der Zumba-Kurs von Bogdana Dzis endet mit einer yoga-ähnlichen Entspannungseinheit. „Namasté!“, schreit Dzis zum Abschluss. Es ist wohl das strengste, aber auch das sympathischste „Namasté“, das man in Hamburg zu hören bekommt.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!