Ukraine-Filmreihe im Kino Krokodil: Entfremdung im Osten
Das Kino Krokodil zeigt in der Reihe „Мир Вам – Peace to You All“ Dokumentarfilme aus der Ukraine. Sie entstandne nach der Annexion der Krim.
In trauter Einigkeit picken Pfauen und Hühner im Stall. Nikolaj Nikolajevitsch telefoniert. Der Mann mit schütteren Haar erkundigt sich bei einem Minizoo in Donezk nach Chamäleons und Gekkos. Sind sie zu haben? Was fressen sie? Kann man die Rückwand des Terrariums aus Plastik machen? Nikolajevitsch betreut einen „Naturpalast“ in der ukrainischen Bergbaustadt Dobropillja im Donbas. Zumindest betreute er den Naturpalast 2015/6, als Veronika Glasunowa und Lukasz Lakomy im Donbas drehten.
Sieht man das Leben im Donbas in „Langes Echo“, fragt man sich, in welcher Zeitform man heute, sechs Jahre und einen russischen Angriffskrieg später, über dieses Leben schreiben soll. Am Ende des Telefonats erkundigt sich Nikolajevitsch, ob man überhaupt nach Donezk kommt und ob es das Passierscheinsystem noch gibt. Gibt es, aber Nikolajevitsch wird später erfahren, dass er dennoch keinen Passierschein bekommt.
„Langes Echo“ läuft am Mittwoch im Berliner Kino Krokodil in Anwesenheit der Regisseurin. Der Film ist Teil der Reihe „Мир Вам – Peace to You All“, die sich der Situation in der Ukraine widmet. Die sieben Dokumentarfilme der Reihe entfalten die Geschichte des nicht enden wollenden Ausnahmezustands, der auf die russische Besetzung und Annektion der Krim 2014 folgte.
2020 versorgt das Rote Kreuz Flüchtende in der Ostukraine. Einer der Helfer ist Andriy Suleyman, Sohn einer ukrainischen Mutter und eines kurdischen Vaters, der mit seiner Familie aus Syrien nach Lyssytschansk in Luhansk geflohen ist. In Lyssytschansk wird die Familie von den Kriegen Russlands wieder eingeholt. Die Stadt ist ein Albtraum, deren Charakter als Kriegsgebiet durch die konstrastreichen Schwarzweißbildern des Films noch unterstrichen wird.
„Мир Вам – Peace to You All“, bis 22. 4., www.kino-krokodil.de
Alina Gorlova folgt Suleyman in „This Rain will Never Stop“ auf seiner Suche nach Zugehörigkeit aus Luhansk nach Deutschland und in den Nahen Osten. Neben Alina Gorlovas aktuellem Film zeigt die Reihe auch „No Obvious Signs“ von 2018 über eine Offizierin der ukrainischen Armee im Ringen mit den Traumata ihrer Armeezeit.
Durch die Filme hindurch lässt sich die Entfremdung der lange multiethnischen Region vor allem im Osten der Ukraine beobachten. Erzählen lässt sich die Geschichte dieser Entfremdung nur in komplexen Zusammenhängen, geographischen und zeitlichen. Der Syrienkrieg in Alina Gorlovas Film. In „Langes Echo“ sitzen Veteran_innen des Zweiten Weltkriegs mit sowjetischen Orden an der Brust und hören einem ukrainischen Offizier in Tarnfleck zu, wie er seiner Fassungslosigkeit über das Schlamassel im Donbas Ausdruck verleiht.
In „Close Relations“ fragt der russische, in Lviv geborene, Dokumentarfilmregisseur Vitaly Mansky seine Tante, wie aus seiner Urgroßmutter, einer litauischen Polin, eine Ukrainierin wurde. Sein Film, von 2016 und damit einer ältesten der Reihe, spürt den Folgen der russischen Besetzung der Krim und der Annexion in der Familie des Regisseurs nach.
Er beginnt bei seiner Mutter in Lviv und reist von dort weiter durch die Ukraine, auf die Krim, nach Donezk. Die Medienbilder auf den unermüdlich laufenden Fernsehern – ukrainisches Fernsehen hier, russisches Fernsehen dort – könnten nicht unterschiedlicher sein und mit ihnen wandeln sich auch die Meinungen, die die Familienmitglieder vertreten.
Die klug ausgewählten, sieben Dokumentarfilme der Reihe „Мир Вам – Peace to You All“ vermitteln ein komplexes, vielstimmiges Bild aus der Ukraine aus den Jahren seit der Annexion der Krim durch Russland. Man wird davon ausgehen können, dass die aktuelle Lage in den Gesprächen rund um den Kinogang ergänzt werden wird. Die Reihe ist eine Gelegenheit Komplexität nachzuholen, bevor man sich in die nächste, aufgeregte Diskussion der ukrainischen Gegenwart stürzt.
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