Überwachung der Videoüberwachung: Die kleinen Brüder von Neukölln
Auf einem Spaziergang durch Neukölln lassen sich die Dimensionen der Videoüberwachung im Kiez erkunden. Doch genau das ist schon verdächtig.
Bedrohlich sieht sie nicht aus. Klein und unauffällig ist die faustgroße Kamera unter einem Metallschirm versteckt. Im Blick hat sie trotzdem eine Menge: Wer die Neuköllner Okerstraße in Richtung Tempelhofer Feld läuft, wird gefilmt - auch bei Dunkelheit. Dafür sorgen kleine Infrarotleuchten, die wie eine Perlenkette um das Objektiv gereiht sind. Und das ist nur der Anfang.
Die Kamera, die zu einem Lottoladen gehört, ist die erste auf diesem Kameraspaziergang des Seminars für angewandte Unsicherheit (SaU). Seit Jahren organisiert die Gruppe Spaziergänge, mit denen Anwohner und Interessierte für Videoüberwachung sensibilisiert werden sollen. Zunächst führten die Aktivisten durch Mitte, dann durch den Kiez um den Boxhagener Platz in Friedrichshain, nun erstmals durch das Schiller- und das Rollbergviertel in Neukölln. "Eigentlich wollten wir Kreuzberg in Angriff nehmen", sagt Kerstin*, eine der Organisatorinnen. Doch mit der Öffnung des Tempelhofer Felds seien die angrenzenden Kieze in den Fokus gerückt.
Einfach eine Kamera vor die Haustür zu hängen, ist nicht erlaubt. Auch wenn eine Menge Haus- und Ladenbesitzer so handeln - das Gesetz verlangt mehr. Der Überwachungswillige muss prüfen, ob eine Kamera notwendig ist oder ob andere Methoden der Sicherheit Genüge tun.
Auch die Sensibilität des Ortes spielt dabei eine Rolle: Ein U-Bahnhof ist weniger sensibel als ein Wartezimmer. Bei Funkkameras muss das Signal verschlüsselt werden. Immer gilt: Wer in den überwachten Bereich gelangt, muss darauf hingewiesen werden.
Laut Datenschutzgesetz kann der Betroffene Auskunft über die über ihn gespeicherten Daten verlangen. Für die rechtliche Überprüfung von Überwachungskameras ist der Landesdatenschutzbeauftragte zuständig.
Unter Kamera eins drängeln sich mehr als 30 Menschen. Alle blicken nach oben, einer winkt. Kerstin, die ein Tablett mit einem Notebook wie einen Bauchladen vor sich herträgt, schaltet das Gerät an. Auf dem Bildschirm erscheinen erst verzerrte Linien, dann ein Bild der Gruppe vor dem Laden. Ein bisschen unruhig ist das Bild, aber die Gesichter sind gut zu erkennen. "Wie geht denn das?", flüstert eine Teilnehmerin ihrer Freundin zu.
"Wir haben einen 2,4-Gigahertz-Empfänger dabei, der an den Laptop angeschlossen ist", erklärt Roja. Die Kamera, die der Laden benutzt, ist eine Funkkamera, die ihr Signal unverschlüsselt und ohne Kabel zu einem Bildschirm sendet. "Daher ist es nicht so, dass wir uns irgendwo reingehackt haben, um jetzt das Bild zu sehen. Es ist einfach frei empfangbar."
Die Kamera am Lottoladen ist nur eine von knapp 100, die die Aktivisten während der Vorbereitung des Spaziergangs im Schiller- und im benachbarten Rollbergkziez entdeckten. Auf der Karte, die sie erstellt haben, drängeln sich die kleinen blauen Punkte vor allem entlang der Hermannstraße. Jedes Gebäude, so scheint es, hat hier irgendwo eine Kamera montiert. Und das sind nur die sichtbaren.
Die Dichte ist hier sogar höher als in dem Gebiet rund um den Boxhagener Platz, durch das die letzte Tour ging. "Zufall", glaubt Eric Töpfer, wissenschaftlicher Mitarbeiter, der am Zentrum Technik und Gesellschaft der Technischen Universität (TU) zu Überwachung forscht. "Wobei es auch sein könnte, dass die Ladenbesitzer in der Ecke Neuköllns einfach ängstlicher sind als in Friedrichshain."
Während des Spaziergangs vermitteln die Aktivisten zunächst einmal die Grundlagen. Martin erklärt den Unterschied zwischen Funkkameras und solchen mit Kabel, zwischen gerichteten Kameras und dem Dome-Typ, den vor allem Banken gerne verwenden. Zu sehen ist dann nur eine Art Halbkugel - der Passant weiß nicht, ob er gerade beobachtet wird oder nicht. Private Kameras seien dabei in Berlin weiter verbreitet als staatliche. "Es ist also nicht so, dass man sagen könnte: Hier baut sich ein großer Bruder auf. Stattdessen bauen sich viele kleine Brüder auf." Die Grenzen zwischen privat und staatlich würden dadurch verwischen, dass im Fahndungsfall auch private Daten an staatliche Stellen weitergegeben würden. "Übrigens", sagt Martin und zeigt schräg über seine Schulter, "das hier ist eine Attrappe."
Tatsächlich hängt die Kamera an dem dunklen Backsteingebäude beim genauen Hinsehen merkwürdig. Nicht etwa an einer Hauswand, sondern an der steinernen Säule eines Balkons, die bestimmt keine Stromleitungen führt. "Sie soll die Schüler der benachbarten Schule von ungehörigem Verhalten abhalten", erklärt Martin. Vom Rauchen zum Beispiel. Ein paar Tage lang hätte das nach Auskunft der Anwohner auch geklappt. Dann seien die Schüler aber schnell darauf gekommen, dass mit dem Plastikteil niemand gefilmt wird.
Während die Gruppe durch die Straßen zieht und mal vor der Filiale einer Supermarktkette, mal vor dem Jobcenter stehen bleibt, nähern sich immer wieder Kinder, die in der Gegend wohnen: "Ey Alter, was macht ihr?" Jedes Mal findet sich ein Aktivist, der ihnen erklärt, worum es geht: um Überwachung, um Veränderungen in dem Viertel, die dazu führen könnten, dass sie irgendwann vielleicht umziehen müssten. Nicht bei allen kommt das an: Zwei Jungen stehen später am Rand und fotografieren die Gruppe mit ihrem Handy.
Den SaU-Aktivisten geht es nicht nur um Kameraüberwachung, sondern um die Zusammenhänge zwischen Überwachung, Stadtentwicklung und realer oder gefühlter Sicherheit. Gentrifizierung ist ein Thema, das sich durch den gesamten Spaziergang zieht und von dem auch ein Teil der Aktivisten betroffen ist, wenn nicht direkt, dann über Freunde oder Familie.
An der Schillerpromenade Ecke Kienitzer Straße kommt die Polizei. "Tachchen", sagt die Beamtin. "Gibt es einen Anlass?" -"Wir machen einen Stadtrundgang", antwortet Erik. Die Beamtin scheint besänftigt. Doch ein Streifenwagen bleibt der Gruppe auf den Fersen.
Später werden sich alle einig sein: Es ist kein Zufall, dass die Polizei ausgerechnet hier auf die Gruppe aufmerksam wurde. Nur ein paar Meter weiter befindet sich das Quartiersmanagement Schillerkiez. Die Quartiersmanager wollen Viertel attraktiver machen - manche befürchten in Folge dessen steigende Mieten. Der Auftritt der Polizei, plötzlich heruntergelassene Rollläden des Quartiersladens - all das habe mit der Angst der Quartiersmanager zu tun, glauben die Spaziergänger. "Das Quartiersmanagement zeichnet sich außerdem durch das Ignorieren von strukturellen Problemen aus. Über Armut und Rassismus liest man in den Zeitschriften der Quartiersmanagements wenig", kritisiert Erik.
Drei Straßen und drei Stunden später: Die Polizei hat jenseits der Hermannstraße die Verfolgung beendet, Kerstin das Notebook zugeklappt. Die Gruppe läuft in Richtung Falkstraße, zur Rollbergsiedlung. Links und rechts hängen immer wieder Kameras, die Straße steht unter der Beobachtung der Wohnungsbaugesellschaft Stadt und Land. Auch an den bunt bemalten Fassaden der Rollbergsiedlung sind Überwachungskameras befestigt. Das Viertel war lange wegen hoher Kriminalitätsraten in den Schlagzeilen. "Die Siedlung ist ein gutes Beispiel für eine ganze Sicherheitsarchitektur", sagt Martin. Flächendeckende Videoüberwachung, Gitter am Eingang, Teilung der weitläufigen Flure, all das soll die Sicherheit erhöhen.
"Eine Kamera ist nicht der Polizist an der Ecke", sagt Wissenschaftler Töpfer. Nicht nur, dass eine Kamera in kritischen Situationen nicht eingreifen könne. Auch, was mit den aufgenommen Bildern passiert und wer darauf Zugriff hat, bleibe im Dunkeln. Trotzdem warnt er vor einer Überbewertung der Technologie: Es gebe noch so viele Probleme, dass Videoüberwachung derzeit weder ein Allheilmittel noch ein Grund zur Paranoia sei.
Das sehen die Spaziergänger anders. "Gruselig" findet eine Teilnehmerin die Häufung der Kameras in Neukölln. In Zukunft werde sie weniger unbeschwert durch die Straßen laufen. Schließlich sind die kleinen Brüder immer dabei.
*Die Namen der Aktivisten wurden geändert
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