Überwachte Kommunikation: Feind liest mit
Weil Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann (CDU) und seine Verwaltung die Internetaktivitäten der Ratsfraktionen protokollieren, boykottieren die Piraten den städtischen Netzzugang.
BRAUNSCHWEIG taz | Kaum sind sie bei der Kommunalwahl im September in den Rat der Stadt gewählt, sorgen die Piraten in Braunschweig für Wirbel: Sie warnen vor der Überwachung des Internetzugangs der Ratsfraktionen durch die Stadtverwaltung. Und haben mittlerweile nicht nur Braunschweigs Grüne, sondern auch die Landesdatenschutzbehörde auf den Plan gerufen.
Gespeichert wird in Braunschweig weit mehr als es die umstrittene Vorratsdatenspeicherung vorgesehen hat, die das Bundesverfassungsgericht 2010 für rechtswidrig erklärt hat, lautet die Kritik der Piraten. Zwei Monate lang hält die Stadtverwaltung die Aktivitäten von Nutzern des kostenfreien städtischen Internetzugangs fest.
Protokolliert werden Zugriffe auf das Internet, Rechneradressen, Benutzernamen, bei E-Mails nicht nur Absender- und Empfängeradresse, sondern auch die Betreffzeile. Das gilt für Mitarbeiter der Stadtverwaltung, die den städtischen Zugang nutzen, ebenso wie für die Ratsfraktionen. Und deren Internetaktivitäten könnten so "lückenlos überwacht werden", warnt Piraten-Fraktionschef Jens-Wolfhard Schicke-Uffmann.
Den Internetzugang von Niedersachsens Landtagsfraktionen stellt die Landtagsverwaltung zur Verfügung.
Die Bedingungen sind in einer 29 Seiten langen "Ordnung für die Nutzung der Elektronischen Datenverarbeitung im niedersächsischen Landtag" geregelt, die Fraktionen und Abgeordnete unterschreiben.
Eine Sicherungskopie des gesamten Datenverkehrs des Landtags wird ein Mal pro Tag erstellt, um den Datenbestand im Falle eines Systemabsturzes wiederherstellen zu können, wie Landtagssprecher Kai Sommer erklärt. Die Datensicherung werde nach 24 Stunden gelöscht.
Protokolliert wird auch im Landtag, welche Internetseiten besucht wurden. Da nicht festgehalten werde, welche Seite von welchem Rechner besucht wurde, lassen sich laut Sommer aber keine Rückschlüsse auf Personen ziehen.
Aufgefallen ist den Piraten die Speicherpraxis gleich nach ihrem Einzug in Rathaus: Um den städtischen Netzzugang nutzen zu können, sollte die neu gebildete Fraktion Dienstanweisungen mit entsprechenden Regelungen unterschreiben. Zudem sollte sie sich in den Anweisungen verpflichten, die Chronik ihres Internetbrowsers, in dem alle besuchten Internetseiten gespeichert sind, über 20 Tage nicht zu löschen.
Die Piraten weigerten sich - derzeit gehen sie über einen eigenen Zugang ins Netz. In einem Ratsantrag fordern sie Braunschweigs Oberbürgermeister Gert Hoffmann (CDU) jetzt auf, den Fraktionen "selbstbestimmtes Arbeiten" zu ermöglichen. Er soll einen Zugang zum Internet ohne Datenspeicherung zur Verfügung stellen.
Alle anderen Fraktionen haben die städtischen Bedingungen längst abgesegnet. Auch die Grünen, denen die Bedeutung der städtischen Dienstanweisungen "einfach nicht bewusst gewesen ist", wie ihr Vize-Fraktionschef Gerald Heere einräumt. Mittlerweile fordern auch sie unprotokollierten Netzzugang und äußern in einem offenen Brief an Oberbürgermeister Hoffmann "massive Bedenken" über die städtische Speicherwut. Dass die Stadtverwaltung eine überwachende Funktion gegenüber den Ratsfraktionen einnehme, sehe man "vor dem Hintergrund einer notwendigen und gewünschten Gewaltenteilung sehr kritisch", heißt es in dem Brief der Grünen.
Die Stadt gibt sich wortkarg: Man prüfe derzeit den Ratsantrag der Piraten, ist die einzige Stellungnahme, die die taz nach mehrfacher Anfrage bekam.
Oberbürgermeister Hoffmann hatte die Kritik zuvor gegenüber Medien zurückgewiesen: Seit Jahren nutzten die Fraktionen den städtischen Internetzugang, Beschwerden habe es bisher nicht gegeben. Er selbst "verstehe von solchen Dingen nichts" und interessiere sich auch nicht dafür, erklärte Hoffmann der Lokalpresse.
Mehr Auskunft über ihre Speicher- und Protokollpraxis wird die Stadt Niedersachsens Datenschutzbeauftragten geben müssen: Auch die haben sich zwischenzeitlich eingeschaltet und die Stadt aufgefordert, bis Donnerstag Stellung zu nehmen. "Wir werden uns das sehr genau anschauen", kündigt Behördensprecher Michael Knaps an.
Bei allem Bemühen um die Sicherheit des eigenen Datenverarbeitungssystems und die Dienstaufsicht über ihre Mitarbeiter müsse die Stadt den Schutz persönlicher Daten gewährleisten. "Dies gilt natürlich umso mehr für Personen, die keiner Dienstaufsicht durch die Stadtverwaltung unterliegen - wie zum Beispiel die Mitglieder der Ratsfraktionen", sagt Knaps.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Rücktritte an der FDP-Spitze
Generalsekretär in offener Feldschlacht gefallen
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Ampel-Intrige der FDP
Jetzt reicht es sogar Strack-Zimmermann
Keith Kelloggs Wege aus dem Krieg
Immer für eine Überraschung gut