Überraschendes Benimm-Buch: Kein Kanon
Benimm in postbürgerlichen Zeiten: Philipp Tinglers "Handbuch für Gesellschaft und Umgangsformen" liefert eher weniger erwarteten Rat - fürs Abwimmeln und grob werden.
Dem äthiopischen Prinzen Asfa-Wossen Asserate und seinem Bestseller "Manieren" verdanken wir die Erkenntnis, dass auch heute nicht wenige Leute Rat in Sachen Umgangsformen suchen. Daraus resultiert ein anhaltender Boom von Anstandsbüchern, der dann belegt, dass der Traktat über Benimm in der postbürgerlichen Gesellschaft per definitionem ein Unding ist.
Man darf nun vermuten, dass dieser Sachverhalt Philipp Tinglers Vergnügen entschieden befördert hat, unter dem Titel "Stil zeigen!", ein "Handbuch für Gesellschaft und Umgangsform" vorzustellen. Den Leuten jedenfalls, die sich Antworten auf die Frage nach dem richtigen gesellschaftlichen Auftreten erhoffen, wird mit dem Handbuch und dem begleitenden, von Philipp Tingler selbst gesprochenen Hörbuch "ABC des guten Benehmens" wenig geholfen sein. Denn anstelle des womöglich erwarteten Kanons passenden Benehmens sieht sich der geneigte Leser oder andächtig lauschende Hörer mit womöglich weit weniger erwarteten Stichworten wie "Implantate", "Buddhismus" oder "Dominick-Dunne-Paradox" konfrontiert. Dennoch haben sich ein paar grundlegende Einsichten, den gesellschaftlichen Umgang betreffend, über alle Zeiten hinweg bewährt.
Zum Beispiel ist ja das Leben an sich für einen einigermaßen empfindsamen Menschen meistenteils eine Zumutung. Daher tut man - schon aus Eigeninteresse - gut daran, die anderen nicht auch noch zu- oder gar vorsätzlich zu inkommodieren. Diese Regel ist allerdings heute kaum noch im Umlauf. Woraus folgt, dass gutes Benehmen zuvörderst in der Kunst liegt, nicht am schlechten Benehmen der anderen zu scheitern. Zu Recht heißt daher das erste Stichwort in Tinglers ABC "Abwimmeln". Denn ist man erst die Langweiler los, die Snobs und die Weinkenner oder Zahnärzte, steht dem guten Benehmen eigentlich nicht mehr viel entgegen.
Wenig erstaunlich folgt aus diesem klugen Ansatz, dass "Stil zeigen" zunächst einmal ein einziges ABC des schlechten Benehmens ist. Denn diesen Beweis führt Philipp Tingler zwingend. Um schlechtem Benehmen zu entkommen, hilft letzten Endes wiederum nur schlechtes Benehmen. Und hier nun, in seinen Anleitungen, sich einigermaßen unmöglich aufzuführen, beweist der Autor weiß Gott Stil. Diese Tipps sind eine echte Lebenshilfe - dann doch. Ja, grob zu werden, ist völlig in Ordnung und zu lügen sowieso. Schließlich ist die Lüge eine Grundfeste guter Umgangsformen.
Nicht in Ordnung ist es dagegen, in Gesellschaft zu langweilen, über Drogen zu reden oder den Dalai Lama, was im Übrigen, wie man schlussfolgern darf, auf das Gleiche hinausläuft. Es soll also nicht verschwiegen werden, dass Philipp Tingler in seinem "Handbuch für Gesellschaft und Umgangsform" durchaus auch positive Regeln aufstellt. Eine der wertvollsten lautet, dass gutes Benehmen nicht darauf gerichtet ist, "den eigenen gesellschaftlichen Aufstieg voranzubringen oder anderen Leuten eine möglichst hohe Meinung von sich beizubringen".
Wer diese Regel übrigens aufs Köstliche beherzigt, ist Tinglers Mitstreiter Daniel Müller, der Buch und CD überragend illustriert hat. Daniel Müller zeigt Stil. Er verführt mit einem Strich, der an die amerikanischen 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts erinnert und nach gediegenen Cocktails und Virginiazigaretten mit einer Note Orienttabak riecht. Bekanntlich ein gutem Benehmen äußerst förderlicher Duft.
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