Überleben in der Großstadt: Lass uns den Verkehrsinsel-Mais ernten
Stadtgärten sind nicht nur soziokulturelle Orte. In Entwicklungsländern liefern sie oft auch lebensnotwendige Nahrungsmittel für die Stadtbewohner.
Die Weltwirtschaftskrise im Jahr 2008 hatte schlimme Folgen für die Ärmsten der Armen. Vor allem afrikanische Staaten, die zu den Nettolebensmittelimporteuren zählen, traf die Krise und die damit ansteigenden Preise für Getreide, Milch oder Brot hart. Hunger und Unterernährung sind die Folge.
Doch viele Menschen machten aus der Not eine Tugend, etwa in den Großstädten von Ghana, Simbabwe und Kenia. Sie fingen an, freie Flächen vor ihrer Haustür zu bewirtschaften - auf Verkehrsinseln, an Flussufern, auf Müllkippen oder entlang der Eisenbahnschienen. Bauten dort Kassava, Kochbananen, Mais und Kohl an. Stadtgärten als Lebensversicherung gegen zukünftige Widrigkeiten wie Klimawandel, Bürgerkriege und Finanzkrisen? Vieles spricht dafür.
Die Armen leben nämlich längst nicht mehr auf dem Land. Die Urbanisierung ist in vollem Gange. Megacitys mit riesigen Slums entstehen, weil die Bauern in der Stadt keine Arbeit finden. In Nairobi, der Hauptstadt Kenias sind 80 Prozent der Menschen erwerbslos. Heute lebt jeder zweite Erdenbürger in einer Stadt, 2050 sollen es zwei Drittel der Weltbevölkerung sein. Europa zählt überhaupt nur noch 20 Prozent Menschen, die auf dem Land wohnen.
Der Prozess von der Farm auf den Teller, verbraucht viermal so viel Energie wie die Produktion des Lebensmittels selbst - das ist wenig nachhaltig. Daher gibt es auch in Industrienationen immer mehr städtische Subsistenzwirtschaft. Die Lohas akzeptieren keine Lebensmittel mehr, die mit hohem Energieaufwand zu ihnen transportiert werden. In New York zählt man mittlerweile 780 Community Gardens, in Toronto 100.
Der wohl prominenteste Garten ist der des Weißen Hauses in Washington, wo die Präsidentengattin mit sozial benachteiligten Schulkindern die Erde bestellt. Aber auch in Vancouver, Chicago, London, Berlin oder München sprießen die Stadtgärten wie Pilze aus dem Boden. Münchens "Krautgärten" haben etwa derzeit eine Fläche von 55 Hektar. Die einst als spießig geltenden Schrebergärten erfahren eine Renaissance, sind heiß begehrt.
Übrigens ist das Phänomen nicht neu. Es gab bereits im Mittelalter städtische Nutzgärten. Und Anfang des 20. Jahrhunderts entstanden landesweit Kriegs- und Notgärten in den zerbombten Städten. "So gab es etwa 1947 einen Kartoffelacker vor dem Reichstag", berichtet Elisabeth Meyer-Renschhausen, Soziologin an der FU Berlin.
Zahlreiche Studien belegen mittlerweile die Vorzüge einer städtischen Agrarwirtschaft weltweit. So tragen Stadtgärten definitiv zur Ernährungssicherheit bei. In Kumasi und Accra (Ghana) werden beispielsweise über 90 Prozent der Gärten für den privaten Konsum bestellt, belegt eine Studie des International Water Management Instituts (IWMI). Der Rest der Gärtner verkauft auch Gemüse und bezieht damit ein Einkommen.
Die Subsistenzwirtschaftler sparten sich bis zu 10 Prozent der Lebensmittelausgaben. Gärten in Accra lieferten bis zu 140 Kilogramm Kassava und 100 Kilogramm Kochbananen. Die Kostenersparnis ist zwar gering, aber die Produkte machten zwischen 20 und 50 Prozent der verzehrten Essensmenge aus. Auch eine aktuelle Studie der University of Malawi belegt, dass Stadtgärten die Armut in der Subsahara verringern können.
In Kuba gibt es seit 1994 "agricultura urbana". Mehr als zwei Drittel des in Havanna verzehrten Gemüses wächst mittlerweile innerhalb der Stadtgrenzen. Auch Obst und Kräuter werden hier angebaut. 1997 produzierten Havannas Stadtbauern 21.000 Tonnen Gemüse, 2005 waren es bereits 272.000 Tonnen. Drei Viertel der landesweiten Gemüse- und Obstproduktion stammen heute aus den staatlich organisierten Gärten. Die asiatischen Großstädte Schanghai mit knapp 20 Millionen Einwohnern und Peking mit 12 Millionen Einwohnern sind zu 50 Prozent autark, was Gemüseproduktion anbelangt.
Dies mindert auch klimarelevante Emissionen. "Stadtgärten fungieren als CO2-Senken", meinte der niederländische Architekt André Viljoen gegenüber der Fachzeitschrift Nature. Vor allem Bäume binden viel Kohlendioxid. Zudem klimatisieren sie die Städte. Bei heißen Temperaturen kühlen Pflanzungen, in der kalten Jahreszeit helfen sie Heizenergie sparen.
Und die langen Transportwege entfallen, auch das spart schädliche Klimagase. Allerdings nur, wenn die Gärten nicht mit synthetischem Dünger, der energieaufwendig produziert werden muss, sondern etwa mit Klärschlamm gedüngt würden. In wohltemperierten, entwickelten Städten könnten 30 Prozent des Bedarfs einer Stadt durch eigenes gezogenes Obst und Gemüse gedeckt werden, meint Viljoen.
Zudem sorgen Gärten in 10 von 15 Ländern für eine abwechslungsreichere und damit gesündere Ernährung, zeigte eine Studie der UN-Ernährungsorganisation FAO aus dem Jahr 2008. Denn: Stadtgärtner bauen unterschiedliche Pflanzen an, vertrauen gleichzeitig lieber traditionellen, robusten Sorten.
Das erhöht auch die Biodiversität: In Peking fand man laut der Center on urban agriculture and food security (RUAF) etwa nur 50 verschiedene Pflanzenarten in angelegten Parks, in den Stadtgärten waren es mehr als 200. In Kuba hält man mittlerweile über 100 verschiedene vor allem einheimische Nutztierrassen in Stadtgebieten.
Bei aller Euphorie gibt es jedoch auch Bedenken. Vielfach entstehen die Gärten nämlich in der Nähe der Industrie, etwa in Asien. Zudem setzen Stadtbauern auch viele Pestizide und Dünger ein, benutzen womöglich kontaminiertes Wasser. So manche Aquakultur wird in Teichen realisiert, die durch Kanalisation gedüngt werden. Experten der FAO mahnen daher mehr Studien zu dem Thema an. Bis es diese gibt, geht man jedoch davon aus, dass der Nutzen die Risiken überragt.
Immer stärker wird daher eine nachhaltige Stadtplanung gefordert, etwa auf dem Erfurter Naturschutzkongress 2008. Bislang verläuft die "Rurbanisierung" jedoch alles andere als geplant und schon gar nicht nachhaltig. Laut Detlev Ipsen, Soziologe an der Uni Kassel, wachsen die Megastädte in Asien, Afrika und Lateinamerika derzeit zu 85 Prozent ohne Zutun der Kommunen.
Dem Phänomen wurde lange Zeit keine große Aufmerksamkeit geschenkt, früher hat man Stadtgärten sogar vielfach weggebaggert, schließlich gehört der Boden meist der Stadt. Architekt Viljoen meint, "dass es auch in Industrieländern nicht durch konservative, langsam arbeitende Stadtplanung geht". Der Trend werde eher durch die Städter selbst angestoßen.
In Afrika ist man auch vorsichtig, weil in einigen Stadtgärten vermehrt Malariafälle aufgetreten sind. Denn die Mücken, die den Erreger übertragen, legen ihre Eier in stehende Gewässer etwa von Wassertonnen oder Reispflanzungen. Doch auch dieser Nachteil könne mit einer guten Anleitung durch die Behörden vermieden werden, meinen FAO-Experten.
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