Über die Schwierigkeit, sich zu wehren: Übergriff im Graubereich
Auch beim Kinderarzt kann Wehrhaftigkeit plötzlich gefragt sein – und doch fehlen. Der Ethikrat hat zumindest deutliche Worte.
K ürzlich war ich mit dem kleinen Kind in der Notfallsprechstunde. Es war kein dramatischer Notfall, eher etwas Verschlepptes, aber die Aussicht, ein krankes Kind durchs Wochenende zu schleppen, ließ mich zum Krankenhaus radeln.
Der Arzt war mittelalt und auf eine demonstrative Art jovial. Er sprach nur mit dem Kind, auf eine Art, die durchscheinen ließ, dass es hier um Pädagogik auf Augenhöhe ging. Das Kind zog seine Gummistiefel vor der Untersuchungsliege aus, wurde untersucht, dann kam eine Arzthelferin mit dem Ergebnis des Urintests.
„Können Sie die ’rübertragen“, sagte der Arzt mit Blick auf die Gummistiefel zu ihr, er selbst stand unmittelbar daneben. Tatsächlich trug sie die Stiefel die zwei Meter zu den Stühlen, wo das Kind und ich saßen. „Was für ein Idiot“, dachte ich. Und schwieg.
Der Arzt wandte sich jetzt mir zu. Das Kind hatte vermutlich eine Vulvovaginitis und keine Blasenentzündung, das war die gute Nachricht. Der Arzt war redselig, er erzählte von seinen zahlreichen Kindern, die trotz regelmäßigen Waschens Vulvovaginitis gehabt hatten, er erzählte von dem üblen Geruch, der damit einhergehe – wie bei den alten Frauen, die sich nicht mehr jeden Tag wüschen. Er kenne das aus seiner Zeit auf der Gynäkologie.
„Was für ein Idiot“
„Was für ein Idiot“, dachte ich zum zweiten Mal. Und schwieg. Ich fand, dass es respektlos war, wie er über die alten Frauen sprach. Aber es war schwierig, es an etwas festzumachen, so wie es schwierig war, zu sagen, warum seine Mit-Kind-auf-Augenhöhe-Art aufgesetzt wirkte. Nicht schwierig war es, in seinem Gummistiefel-Auftrag eine Gutsherren-Art zu finden. Aber war es an mir, die Arzthelferin zu verteidigen oder an ihr selbst?
Während ich dem Arzt und seinen Ausführungen zu Kamillebädern zuhörte, legte er plötzlich seine Hand auf mein Knie. „Das kann doch nicht wahr sein“, dachte ich. „Ich bin zu alt dafür. Doppelt zu alt: Ich passe nicht mehr ins Beuteschema und ich kann den Mund aufmachen.“ Aber ich machte den Mund nicht auf. Ich wollte diesen Arzt nicht gegen mich aufbringen, denn ich wollte, dass er das Kind ordentlich zu Ende untersuchte. Und die Hand hatte nur kurz auf meinem Knie gelegen.
Als wir das Krankenhaus verließen, stand neben dem Fahrradständer der Ethikrat. Der Rat, das sind drei ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Sachen praktischer Ethik geben. Sie waren noch nie unmittelbar nach einem ethischen Dilemma aufgetaucht, aber ich war zu verwirrt, um mich über ihr Erscheinen zu wundern.
„Wissen Sie“, sagte ich einleitungslos zum Rat, „ich dachte, das passiert mir nicht mehr. Ich hatte das zweimal: einmal ein Uniprofessor, in dessen Sekretariat ich Aushilfe war, und einmal ein schratiger Künstler, den ich interviewte. Sie hatten mich gefragt, ob sie mich umarmen dürften und ich war so überrumpelt, dass ich ja gesagt habe. Man kommt sich albern vor, das überhaupt zu erzählen, es klingt so pillepalle. Aber vor allem dachte ich, dass ich es nicht mehr hinnehmen würde.“
Übergriffig, aber nicht dramatisch
Der Ethikrat schwieg. „Ich habe jetzt erst begriffen, dass es diese Graubereiche sind, die es schwierig machen, sich zu wehren. Etwas, das übergriffig ist, aber in keinster Weise dramatisch“, fuhr ich fort. „Und ist es nicht absurd: dass man auf sich selbst fast zorniger ist als auf den Übergriffigen? Hätte ich etwas sagen müssen?“
Der Ratsvorsitzende räusperte sich. „Was wir hier sagen können, auch wenn wir den Ausdruck sparsam verwenden: Der Arzt ist ein Idiot. Vielleicht gelingt es Ihnen, Ihren Ärger in eine angemessene Reaktion umzusetzen.“
Eines der Ratsmitglieder bot dem Kind, das geduldig Kreise in den Sand gemalt hatte, einen Lolli an. „Darf ich auch einen haben?“, fragte ich und dachte, dass auch die Lollis etwas sein sollten, aus dem ich herausgewachsen war. In der nächsten Woche versuchte ich, die E-Mail-Adresse des Arztes herauszufinden. Aber er hat keine eigene Praxis. Vielleicht schreibe ich einen Brief. Vielleicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Unterwanderung der Bauernproteste
Alles, was rechts ist