Über Empörung und Interessen: Stuckrad-Barre oder Hannah Arendt?
Alle reden über das neue Buch von Benjamin von Stuckrad-Barre. Wie wäre es stattdessen mit Politik, Klimakrise und Philosophie?
W ar diese Woche mit Freunden aus, und mehr als die Hälfte des Abends redeten wir aufgeregt über das soeben erschienene Buch des Schriftstellers Benjamin von Stuckrad-Barre (Moral, Macht, Machtmissbrauch, Medien und so weiter). Buch des Jahres! Einmal ging ich versuchsweise mit meinen berüchtigten zwei Worten „sozialökologische Transformation“ dazwischen. Da sagten sie superfreundlich, klar, wichtig, darüber müssten wir unbedingt reden. Beim nächsten Mal.
Das ist die gesellschaftliche, kulturelle und auch mediale Lage. Es ist immer irgendetwas empörender, kitzelnder, interessanter als das Ende der Menschheit. Es ist immer etwas aktuell problematischer. Etwa Spritpreise oder keine neue Gasheizung kaufen zu können, falls die alte eines Tages ausgetauscht werden muss. Es ist einfach auch gemütlicher, wenn andere die Bösen sind.
Jedenfalls hatte Luisa Neubauer während der Protestmarketing-Tage von Lützerath ein Foto von sich gepostet mit einem Buch des Philosophen Hans Jonas: „Das Prinzip Verantwortung“. Da hatte ich gedacht: Hey, vielleicht ist das ja das Buch des Jahres. Was soll ich sagen: Volltreffer. Allerdings nicht, weil Jonas sagt, dass wir als Menschen im Jetzt zur Verantwortung für die Zukunft des Menschen verpflichtet seien. Er sagt nämlich auch, dass diese Zukunftsverantwortung zur Not auch autoritär erzwungen werden müsse.
Auf die Höhe der Problemlage bringt die Neuausgabe des Buches das Nachwort von Robert Habeck. In einem 18-seitigen Essay analysiert der Vizekanzler und Wirtschafts- und Klimaminister tief und wertschätzend, widerspricht aber Jonas in diesem entscheidenden Punkt, dem Zwang. „Wenn radikaler Klimaschutz den Verlust von Freiheit und Demokratie bedeutet, dann haben wir nichts gewonnen.“
Ernst machen mit Zukunftspolitik
Die politische Wahrheit müsse in einer Demokratie immer wieder neu errungen, begründet und hinterfragt werden. Entweder liberaldemokratisch oder gar nicht, wir können uns auch mehrheitlich gegen Zukunftsverantwortung entscheiden. Das muss ausgesprochen sein, sonst gibt es auch keine Mehrheit dafür.
Das ist jetzt die Herausforderung, vor der Habeck selbst steht, da die Grünen in Umfragen sinken, seit er ein bisschen Ernst macht mit Zukunftspolitik und die Koalitionspartner ihn nicht unterstützen, allen voran der schweigende Kanzler. Habeck muss die aktuellen Ängste und die abstrakt scheinende Verantwortung für die Bewahrung von Freiheit, Rechtsstaat und Demokratie mit einer praktischen Politik und einem größeren Sprechen so zusammenbringen, dass eine Mehrheit mitmacht.
In dem Nachwort widerlegt Robert Habeck auch die Annahme, seine Partei und deren Weltsicht sei von Martin Heidegger geprägt. Es ist ja lustig: 08/15-Grüne lesen Heidegger gar nicht, weil: „War Nazi“. Bestimmte Liberale sind dagegen überzeugt, die Grünen folgten weitgehend Heideggers Technikskepsis.
Vor allem aber sagt Heidegger, der Mensch habe genug damit zu tun, da zu sein und Angst vor dem Tod zu haben. So ähnlich sieht das offenbar auch Olaf Scholz, so sah es Angela Merkel. So sieht es Habeck nicht. Er setzt an die Stelle von Heidegger als prägende Denkerin der Grünen – na? Genau! – Hannah Arendt. lso die Philosophin der Freiheit, der Zukunft, des politischen Einmischens.
Das freiheitliche Leben, so der Tenor von „Vita activa“, ist am besten im gemeinsamen Machen. Auch das kann man nicht absolut setzen, aber darauf hinweisen, dass Arendt nicht zufällig die Hauptargumentationsquelle des Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg ist.
Und hinter Winfried Kretschmann steht seit vielen Jahren eine heterogene Mehrheit.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Parteitag der CDU im Hochsauerlandkreis
Der Merz im Schafspelz
Misogynes Brauchtum Klaasohm
Frauenschlagen auf Borkum soll enden