US-Trainerin Jill Ellis: Die unterschätzte Anführerin
Dank Trainerin Jill Ellis lebt das US-Team nicht mehr nur von Stars. Ihretwegen gelten die Spielerinnen im Halbfinale gegen England als Favoritinnen.
Die USA, die am Dienstag (21 Uhr, ZDF) ihr Halbfinale gegen England spielen, sind bei dieser WM wieder Speerspitze der spielerischen Entwicklung des Weltfußballs, der Kämpfe um Emanzipation und der Selbstdarstellung weiblicher Soccer-Superstars. Die zierliche Jill Ellis hat die USA mit auf diesen Gipfel geführt, aber gelegentlich wird sie hinter ihrem Ensemble von Trump-Kritikerinnen und Insta-Königinnen beinahe übersehen.
„Sie ist nicht die Anführerin, die ich mir wünsche“, sagte Hope Solo kurz vor der WM. „Sie verlässt sich extrem auf ihre Assistenten. Sie bricht unter Druck ein. Aber das spielt oft keine Rolle, weil die Qualität des Teams herausragend ist.“ Dafür muss man wissen, dass Solo unter Ellis unfreiwillig ihre Nationalteam-Karriere beendete, nach einem Streit mit dem Verband. Fürs US-Team, findet Solo, sei es meist egal, wer sie trainiere. Man gewinne eben.
Im Grunde hat Jill Ellis das Gegenteil von dem gemacht, was Solo ihr unterstellt. Statt sich die Aufstellung von Fans und Medien diktieren zu lassen, geht Ellis Risiken ein. Sie versetzt schon mal Mallory Pugh auf den Flügel oder Carli Lloyd in die Defensive, sie stellt Nachwuchs aufs Feld und setzt Superstars auf die Bank. Zuletzt traf das Lindsey Horan, die gegen Frankreich nicht in der Startelf stand. Wieder einmal gab es einen nationalen Aufschrei, die Partie wurde zum Entscheidungsspiel über Ellis’ Karriere deklariert. Dann siegten die USA souverän.
Gern vergisst die Öffentlichkeit, dass man vor den Zeiten der stillen Architektin mitnichten ein Abo auf den WM-Titel hatte. Sie sind variabler geworden, weniger abhängig vom Superstar-System, taktisch flexibler. Die Zeiten, wo man nur mit individueller Klasse und Physis siegt, sind auch für die USA vorbei. Gegen Spanien stand das US-Team am Rand der Niederlage. Europa holt auf. „Die europäischen Teams haben einen massiven Schub durch das Investment der Klubs bekommen“, sagt Ellis nun. „Spanien vor allem. Das kreiert eine Dynamik, da kommen noch viele Spielerinnen im Erwachsenenbereich nach. Das WM-Feld ist besser als 2015.“ Sie behauptet, und man kann es ihr fast glauben, dass sie zufrieden damit sei. „Wir wollen es so. Es ist ein tolles Abbild, dass unser Spiel sich entwickelt.“
„Null Chancen“
Jill Ellis versteht sich als Fußball-Entwicklerin, und mag sein, dass das Wachstum in Europa ihr auch persönlich etwas bedeutet. In England 1966 geboren, war eine Fußballkarriere als Frau dort völlig undenkbar. „Ich habe mit den Jungs auf dem Schulhof gekickt und wusste, ich hatte null Chancen, in England Fußball zu spielen. Das ist das, was die USA mir gegeben haben: die Chance auf Fußball.“ Sie erzählt das sehr nüchtern.
Ihr Vater, der Trainer John Ellis, war lange Zeit Fußballbotschafter der britischen Regierung und selbst mal Co-Trainer des US-Frauenteams. Mit 15 Jahren siedelte Ellis mit der Familie in die USA über. „Mein Vater war mein frühester Einfluss beim Blick aufs Spiel.“ Sie wurde Spielerin, fand die wahre Bestimmung aber als Trainerin, erst bei College-Teams, dann bei den US-Juniorinnen. Seit 2010 ist Ellis Entwicklungsdirektorin der United States Soccer Federation, seit 2014 Nationaltrainerin. Wenige haben den US-Fußball so lange begleitet. „Ich bin authentisch bei dem, was ich bin, aber ich lerne von den Leuten, die ich treffe.“ 2015 ist sie schon einmal Weltmeisterin mit den USA geworden, und sie weiß, nichts weniger als die Titelverteidigung erwartet man von ihr. Jetzt steht ausgerechnet ihr Geburtsland dem letzten Schritt ins Finale entgegen. Nein, sie sei nicht überrascht, sie wisse, dass man dort gut arbeitet.
Aktuell ist kaum vorstellbar, dass die noch in der Entwicklung befindlichen Engländerinnen die USA aus dem Wettbewerb werfen. Am ehesten gefährlich werden könnten wohl die Niederländerinnen, auch so ein europäischer Frischling an der Weltspitze. Die ziehen ihr eigenes Spiel auf, die könnten auch mal die US-Abwehr einschnüren. Aber man träfe sie ja sowieso erst im Finale. Wenn Jill Ellis dort den Titel verteidigt, würde sie einen neuen Rekord aufstellen. Sie wäre dann die erste Trainerin, die zwei WM-Titel holte. Im Männerfußball gelang das nur Vittorio Pozzo 1934 und 1938 mit Italien, und da einer dieser Titel auf ziemlich groteske Weise im Mussolini-Staat erpfiffen wurde, wäre sie nach allem Rechtsempfinden die einzige doppelte Titelträgerin. Dann hätte der Mut ihr Recht gegeben. Die Öffentlichkeit dürfte es als bloße Pflichterfüllung sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rekrutierung im Krieg gegen Russland
Von der Straße weg
Umfrage zu Sicherheitsgefühl
Das Problem mit den Gefühlen
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
„Freiheit“ von Angela Merkel
Die Macht hatte ihren Preis
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Gewalt an Frauen
Ein Femizid ist ein Femizid und bleibt ein Femizid