US-Demokratenkonvent vor 40 Jahren: "Schlimmer als der schlimmste Acidtrip"
Barack Obama, Hoffnung der Antikriegslinken, soll beim Konvent der Demokraten Präsidentschaftskandidat werden. Auch bei deren Kongress in Chicago 1968 ging es um Krieg.
Als Bobby Kennedy den Vietnamkrieg zu beenden versprach, hatte er die größten Chancen, beim Parteikongress zwischen dem 25. und 28. August 1968 in Chicago zum Kandidaten aufgestellt zu werden. Aber dann wurde er erschossen, und plötzlich hatte es der Kriegsbefürworter Hubert Humphrey nur noch mit dem zu wenig machtbewussten Eugene McCarthy zu tun, der dann auch prompt einknickte, sodass die Amerikaner nur noch die Wahl hatten zwischen Humphrey und Richard Nixon. Für die Antikriegskoalition stand in Chicago die Zukunft auf dem Spiel. Es ging um nichts Geringeres als um die Frage, ob auch in den nächsten vier Jahren Napalm auf die vietnamesische Zivilbevölkerung geworfen würde. Und deshalb mobilisierte die Kriegsopposition, um die Demokraten unter Druck zu setzen. Die Demonstrationen mussten nicht unbedingt gewaltsam verlaufen, aber dass sie es dann taten, dafür sorgte der Bürgermeister von Chicago, Robert Daley, ein typischer "Boss" aus dem Gewerkschaftsmilieu, der Langhaarige und Hippies hasste.
Daley jedenfalls ließ ein furchterregendes Polizeiaufgebot auffahren: 12.000 Polizisten waren im Einsatz, 5.000 Soldaten (von denen 43 vor ein Kriegsgericht kamen, weil sie sich weigerten, sich an der Bekämpfung der Unruhen zu beteiligen) und 6.000 Nationalgardisten, und da sind noch nicht die FBI- und CIA-Agenten mitgerechnet. Die Friedensbewegung ließ sich abschrecken. Statt der erwarteten 50.000 kamen nur 3.000, aber das waren die Härtesten. Das waren die Yippiehs, die von Abbie Hoffman und Jerry Rubin angeführte radikale Linke, die ein "perfektes Chaos anrichten" wollte, das schließlich auch nicht schlimmer sein konnte als die Unvernunft, mit der der Kommunismus im Fernen Osten verhindert werden sollte. "Nie zuvor [hatten] so viele so viel Angst vor so wenigen", schrieb die Chicago Sun-Times.
Als Abbie Hoffman Anfang August auf dem OHare-Flughafen in Chicago landete, mit T-Shirt, Cowboystiefeln und langen Haaren, war es nicht bloße Paranoia, dass ihn alle Leute anstarrten. Die Leute wussten, warum er gekommen war, und sie waren ihm feindlich gesonnen. Während der gesamten Zeit hefteten sich zwei Beamte an Hoffmans Fersen, während ein anderer FBI-Agent Jerry Rubin überwachte.
Am 20. August marschierten die Russen in der Tschechoslowakei ein. Abbie Hoffman berief sofort eine Pressekonferenz ein, um auf die Parallelität der Ereignisse hinzuweisen, denn auch das in "Tschechago" umgetaufte Chicago war von Polizei besetzt. Chicago war zum Prag des Westens geworden, und wie die Prager Demonstranten gingen die Yippiehs auf die Polizisten zu, um sie zu fragen: Warum seid ihr hier? Ein friedlicher Dialog entwickelte sich nicht daraus. Zu aufgeheizt war die Stimmung, denn trotz monatelanger Verhandlungen wurde es den Demonstranten nicht erlaubt, im Lincoln-Park zu übernachten. Hier versammelten sich diejenigen, die schon allein durch ihr Aussehen Daley schlaflose Nächte bereiteten. "Wir waren dreckig, übel riechend, schmierig, verrottet, vom Rauschgift zerfressen, dem Teufel verfallen und lederbejackt. Wir waren eine öffentliche Schaustellung von Schmutz und Zerlumptheit, der lebende Abfall der bürgerlichen Konvention", schrieb Jerry Rubin.
Dann tauchten auch noch Meldungen auf, die Yippiehs hätten damit gedroht, das Trinkwasser mit LSD zu vergiften, außerdem würden sie Taxis einsetzen, um Delegierte zu entführen, und ein Gerücht besagte, das Amphitheatre, in dem der Parteitag stattfand, würde mit einem Granatwerfer beschossen. Keine Meldung war zu verrückt, um nicht die Runde zu machen, und die Yippiehs nutzten die Bereitschaft der Medien, um weitere bizarre Nachrichten in die Welt zu schicken.
Die dadaistischste Aktion bestand in der Nominierung von Pigasus zum Präsidenten der Vereinigten Staaten. Die Kandidatur eines Schweins löste heftige Fraktionskämpfe aus. Sollte es hässlich oder süß aussehen? Außerdem wollten einige Yippiehs das Tier am Spieß braten und essen, denn erst dadurch würde sich der Kandidat wirklich von seinen Konkurrenten unterscheiden: "Die Demokraten nominieren ihren Präsidentschaftskandidaten, und er frisst das Volk auf. Wir nominieren unseren Kandidaten und fressen ihn auf." Aber bevor sich dazu die Gelegenheit ergab, wurde Pigasus von "zehn zweibeinigen Tschechago-Schweinen" verhaftet, während Jerry Rubin rief: "Die amerikanische Demokratie stinkt zum Himmel! Man gibt unserem Kandidaten nicht einmal die Chance, seine Nominierungsrede zu halten!" Und Abbie Hoffman drohte: "Wenn das Schwein noch im Gefängnis sein sollte, wenn die Wahl beginnt, dann schicken wir einen Löwen ins Rennen." TV- und Rundfunkanstalten, Presse- und FBI-Leute drängten sich auf dem Platz, um nichts zu verpassen. Und es gab nicht wenige, die durchaus Verständnis aufbrachten: "Er ist jedenfalls nicht besser und nicht schlechter als die übrigen Kandidaten", sagte eine Kellnerin.
Am Samstagabend zog die Polizei ihre Einsatzkräfte zusammen, um den Lincoln-Park zu räumen, aber bevor sie zum Angriff übergehen konnte, tauchte Allen Ginsberg auf, summte sein berühmtes "Om" und führte die Demonstranten aus dem Park. Einen Tag später begann der Parteitag, das Ritual im Park wiederholte sich, aber diesmal funktionierte das Ginsbergsche "Om" nicht. Die Ordnungshüter gerieten außer Kontrolle und schlugen auf alles und jeden ein, ja, sie zerstachen auf dem Parkplatz neben dem Park sogar die Reifen der Autos, auf denen sie einen McCarthy-Aufkleber entdeckten.
Hugh Hefner, der Herausgeber des Playboy, bekam beim Verlassen seiner Villa etwas ab und war darüber so empört, dass er später eine Dokumentation über die Polizeigewalt finanzierte. Und auch Hunter S. Thompson, der durch sein Buch über die Hells Angels berühmt geworden war, bekam zu spüren, wie sich ein Schlagstock anfühlte. "Für mich war die Woche in Chicago viel schlimmer als der schlimmste Acidtrip, von dem ich gerüchteweise gehört hatte. Sie hatte meine Hirnfunktionen für immer verändert, und mein erster Gedanke - als ich mich schließlich beruhigt hatte - war die absolute Überzeugung, dass es für mich nicht mehr die geringste Möglichkeit gab, einen Waffenstillstand mit einer Nation aufrechtzuerhalten, die in der Lage war, eine bösartige Monstrosität wie Chicago auszubrüten und voller Stolz zu hätscheln."
Am Mittwoch eskalierte die Situation, als die Grundsatzkommission den Krieg befürwortete und die Nominierung Hubert Humphreys bekannt gegeben wurde. Nachdem sie vier Tage verprügelt worden waren, schlugen die Yippiehs jetzt zurück. Es entwickelte sich eine offene Schlacht, die sich bis zum Hilton ausweitete. Die Polizei behauptete, dass sie mit Gegenständen beworfen und beleidigt worden sei, aber die Kameras, die an den Markisen vor dem Hoteleingang angebracht waren, zeigten etwas anderes: Polizisten, die mit Gewehrkolben sogar auf Kinder und alte Menschen losgingen. Die Lobby des Hotels war überfüllt mit schwer lädierten und blutenden Menschen. Siebzehn Minuten dieses polizeilichen Amoklaufs wurden über einen Satelliten in die ganze Welt ausgestrahlt, die Abendnachrichten brachten das Material ungeschnitten, der Riss bei den Demokraten wurde noch tiefer, Delegierte sprachen von "Gestapomethoden", aber für solche Leute hatte Richard Daley nur ein "Fuck you, you Jew son of a bitch!" übrig. Die Öffentlichkeit war entsetzt. Und die Republikaner profitierten davon. Das jämmerliche Bild der Demokraten sorgte unter ihren Wählern für eine geringe Wahlbeteiligung, denn die Schwarzen und die "Friedensfreaks", die Bobby Kennedy bei den Vorwahlen in Kalifornien den Sieg beschert hatten, sahen keinen Grund mehr, zur Wahl zu gehen. Wie zur Strafe kam der "pompöse Plastikfurz Nixon" an die Macht, "ein Mann ohne Seele, ohne innere Überzeugungen, mit der Integrität einer Hyäne und dem Stil einer giftigen Kröte", und Hunter S. Thompson war nicht der Einzige, der das so sah.
Die Yippiehs hatten ein bisschen Vietnam nach Chicago gebracht, aber die List der Geschichte sorgte dafür, dass genau in dieser Woche, als die Dinge in Vietnam erneut eskalierten und 308 amerikanische und 4.755 feindliche Soldaten fielen, der Krieg zum ersten Mal nicht im Zentrum der Nachrichten stand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Erfolg gegen Eigenbedarfskündigungen
Gericht ebnet neue Wege für Mieter, sich zu wehren
Stockender Absatz von E-Autos
Woran liegt es?
Grünes Wahlprogramm 2025
Wirtschaft vor Klima
Tod des Fahrradaktivisten Natenom
Öffentliche Verhandlung vor Gericht entfällt
Energiewende in Deutschland
Erneuerbare erreichen Rekord-Anteil
Parteiprogramme für die Bundestagswahl
Die Groko ist noch nicht gesetzt