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URTEIL IST RICHTIG: IM SINNE DES GESETZES IST KOHL EIN STASI-OPFERMeine Akte gehört mir

Die Empörung ist allzu verständlich, mit der in der Öffentlichkeit, zumal in der linken, das Urteil des Berliner Verwaltungsgerichts in Sachen Kohl gegen Gauck-Behörde zur Kenntnis genommen wurde. Das Unverständnis macht sich an der Tatsache fest, dass bei Kanzler Kohl nicht der leisteste Hauch eines Bedenkens zu spüren war, als in den 90er-Jahren Akten zu Personen der Zeitgeschichte wie Herbert Wehner oder Helmut Schmidt von der Gauck-Behörde herausgegeben wurden. Gleiches traf auch auf veröffentlichte Akten von DDR-Politikern und anderen Personen der Zeitgeschichte zu, die weder MfS-Leute noch Begünstigte der Stasi gewesen waren. Ganz zu schweigen von Bürgern der DDR, die erst Täter (IMs), dann Opfer (Bespitzelte) waren. Sie konnten sich keine Hoffnung darauf machen, dass ihre gesamte Akte geschützt werden würde. Mit einem Satz: Es drängt sich der Eindruck auf, als ob hier mit zweierlei Maß gemessen würde.

Das Urteil wird, ein weiteres berechtigtes Argument, verheerende Folgen für die zeitgeschichtliche Forschung haben. Denn wenn jeder bespitzelte oder belauschte Politiker, so er nicht über Privates redete, den Schutz des Gesetzes als „Betroffener“ oder „Dritter“ genießt, bleibt gar kein Raum mehr für eine rechtliche Abwägung. Die Waagschale des allgemeinen Persönlichkeitsrechts braucht dann nicht mehr mit der Waagschaale des öffentlichen Interesses austariert zu werden. Und die Rechtsprechung der Bundesgerichte, die in den vergangenen beiden Jahrzehnten das öffentliche Interesse stark gemacht haben, könnte man vergessen. Jede Forschung, die auf die Funktionsweise und die Struktur des MfS gerichtet wäre, müsste unterbleiben, sofern Personen der Zeitgeschichte als „Opfer“ oder „Dritte“ in den entsprechenden Akten figurieren. Damit wäre einem wesentlichen demokratischen Ziel, der Aufklärung über ein diktatorisches System, der Garaus gemacht.

Aber selbst wenn alle diese Kritikpunkte zutreffen, entbehrt das Urteil des Gerichts doch nicht der Folgerichtigkeit und der inneren Konsistenz. Stellen wir das Gedankenexperiment an, in den 80er-Jahren wären in der Bundesrepublik Abhörprotokolle von Gesprächen westdeutscher Politiker veröffentlicht worden, die bekanntermaßen aus MfS-Beständen stammten und deren Echtheit unbezweifelbar war. Nicht nur Gerichte und Untersuchungsausschüsse, auch breite Teile der Öffentlichkeit hätten sich geweigert, solchen Dokumenten irgendeinen Wert zuzuerkennen. Und zwar ausschließlich, weil die in ihnen enthaltenen Informationen durch eine systematische schwere Verletzung von Grundrechten zustande kamen. Als nach 1990 die Bürgerrechtler die Öffnung der MfS-Archive und schließlich das Stasi-Unterlagen-Gesetz erzwangen, verbanden sie mit der Aktenöffnung ganz klar die Priorität des Opferschutzes. Was über „Betroffene“ und „Dritte“ vermerkt war, sollte nur mit deren Einwilligung publik gemacht werden. Insofern ist das Unterlagengesetz ein Spezialgesetz mit besonderen Erfordernissen; Überlegungen aus dem seinerzeitigen westdeutschen Archivgesetz und dessen Öffentlichkeitsgrundsätzen sind auf die Rechtslage nach dem Stasi-Unterlagen-Gesetz einfach nicht übertragbar.

Der damalige Satz „Meine Akte gehört mir“ stimmt zudem mit der jahrzehntelangen Rechtsprechung des Verfassungsgerichts zur informationellen Selbstbestimmung und zu den immateriellen Persönlichkeitsrechten überein. Wenn Kohl heute die Geltung dieses Satzes für sich beansprucht, will er zwar mögliche Verstrickungen in die CDU-Spendenaffäre vertuschen – trotzdem entspricht dies dem Impetus des Gesetzes. Kohl ist Täter und Opfer, aber im Zusammenhang der Abhörprotokolle kommt es nur auf seine Rolle als Opfer an. Und dass die Gauck-Behörde bislang einem anderen Prinzip folgte, kann, wie Richter Markworth bemerkte, nichts aussagen über die Rechtmäßigkeit dieser Praxis.

Welcher Weg führt aus dem Dilemma einer richtigen Entscheidung mit fatalen politischen Folgen? Man kann auf das Urteil des Bundesverwaltungs- bzw. Verfassungsgerichts warten und auf eine erfolgreiche Revision hoffen. Viel besser wäre der Weg einer Gesetzesänderung – sie müsste den Ansprüchen aus dem Persönlichkeitsrecht ebenso Rechnung tragen wie dem Interesse an öffentlicher Aufklärung. Auf dem Spiel steht der Rechtsfrieden im geeinten Deutschland.

CHRISTIAN SEMLER

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