: Turban, Kopftuch, Polizei
Manchmal sind Sonderrechte für Einwanderer nötig. Denn wenn Integration das Fremde verschwinden lassen will, grenzt sie aus. Eine Antwort auf Ulrich K. Preuß
Den Empfehlungen der Süssmuth-Kommission gehen viele Debatten in Deutschland voraus: um Asyl- und Einwanderungspolitik, um Multikulturalismus und Leitkultur und um rechtliche und begriffliche Kunstfertigkeiten wie doppelte Staatsbürgerschaft, „Zuwanderung“ und „Kontingentflüchtlinge“ – oder auch um die Green Card, die so fremdartig ist, dass sich dafür nicht einmal ein deutscher Name fand. Den Debatten ist gemeinsam, dass Deutschland versucht, die Integration der Einwanderer bis hin zu ihrer gesellschaftlichen Unsichtbarkeit fest im Auge zu behalten. Geradezu obsessiv wird nun an Sprach- und Eingliederungskursen gebastelt, damit es auch bloß nicht zur Bildung ethnischer Ghettos kommt, und das fragwürdige niederländische Modell – Strafen für Integrationsverweigerer – wird als Wundermittel herangezogen. Wie nun stellt man sich diese Integration tatsächlich vor?
Ulrich K. Preuß beispielsweise, prominenter Verfassungsrechtler, linksliberal und Kandidat der Grünen für das Bundesverfassungsgericht, schrieb kürzlich in der Wochenzeitung Die Zeit reichlich skeptisch über Multikulturalismus. Zu Recht spricht Preuß davon, dass Deutschland, das sich allmählich als Einwanderungsland versteht, eine neue Normalität herstellen muss. Nur, wie definiert Preuß diese? Er verwirft einerseits den universalistischen Republikanismus Frankreichs mit seiner regelrechten Verleugnung ethnischer Differenz zugunsten eines homogenen Staatsvolks und wünscht andererseits, dass sich Zugewanderte nicht als unvollkommenere Deutsche betrachten sollten. Gleichzeitig warnt er Minderheiten davor, auf ihrer Besonderheit zu beharren und sich vielleicht gar „bedingungslos und aggressiv“ ethnisch abzukapseln. Damit fordert Preuß die gesichtslose Integration ent-ethnisierter Einwanderer. Diese Position entspricht einer deutschen Grundhaltung, die sich in den letzten hundert Jahren auch im linksliberalen Spektrum, von Max Weber bis zur Sozialdemokratie, kaum verändert hat.
Der deutsche Verfassungsstaat, so Preuß zur Begründung, sei nicht wertneutral. Würden bestimmte Einwanderergruppen von gewissen Pflichten befreit, so bedeute dies letztendlich die Ausgrenzung aus der Mehrheitsgesellschaft. Wie der kanadische politische Philosoph Charles Taylor, so will zwar auch Preuß die kulturelle Differenz anerkennen, doch soll dies keine Auswirkungen auf die geltenden Grundrechtsnormen haben. Dafür gebe es in Deutschland inzwischen zu viele und zu unterschiedliche Minderheiten. Dahinter steht nun als gärtnerische Idee nicht mehr die monokulturelle Volksgemeinschaft eines Carl Schmitt, aber doch eine Grünanlage, in der spontaner Wildwuchs sorgfältig auf dieselbe Heckenhöhe zurückgestutzt wird. Die späte Gnade der Einwanderung nach Deutschland verlangt eine Integration, in der sich ethnische Identität zu kaum mehr als Volkstanz und Dönerkebab verflüchtigt.
Aber stimmt es denn empirisch, dass, wie Preuß meint, Anerkennung des Andersseins und Befreiung von „allgemeinen Pflichten“, die freilich immer national-kulturell bestimmt sind, zur Ausgrenzung führen? Genau das Gegenteil scheint mir der Fall zu sein: Gerade die Anerkennung der Differenz führt zur Integration. Nehmen wir als Beispiel den zugegebenermaßen drastischen Fall der kanadischen Sikhs in der kanadischsten aller kanadischen Institutionen, der Royal Canadian Mounted Police (RCMP), der Bundespolizei. Vor einigen Jahren haben die Sikhs vor dem höchsten Gericht durchgesetzt, dass für Mitglieder ihrer Gemeinschaft der Turban und der rituelle Dolch in die geschichtsträchtige Uniform der RCMP integriert werden. Abkapselung durch Beharren auf Besonderheit? Im Gegenteil: Wie die kanadische Politik zeigt, so ist es gerade die Anerkennung des Beharrens auf Differenz, die zur Integration führt. Sikhs wären vom Dienst in der RCMP ausgeschlossen, hätte diese den Turban am Ende nicht akzeptiert.
In Deutschland dagegen speisen sich Ghettoisierung und ethnische Unerbittlichkeit gerade aus dem Mangel an Anerkennung. Das zeigt sich etwa beim Kopftuchverbot für muslimische Frauen, wie im bekannten Fall der baden-württembergischen Lehrerin; ein Fall, der nie zu dem Skandal wurde, der er tatsächlich ist. Man greift sich an den Kopf: Statt all die leeren Sonntagsreden zu halten, hätte sich hier die Chance geboten, Schülern praktisch darzustellen, wie Toleranz funktioniert. Alle Rationalisierungen dieses Verbotes, politisch und anderweitig begründet, sind fadenscheinig. Die grundrechtlich garantierte freie Ausübung der Religion wird hier nicht gewährleistet. Ob die Kopftuch tragende Lehrerin nun angeblich fundamentalistisch ist oder nicht, tut nichts zur Sache, solange sie in der Schule nicht für ihre Zwecke missioniert.
Wem schadet es denn, wenn die Mehrheitsgruppe täglich mit anderen Traditionen konfrontiert wird? Hier liest Preuß auch Charles Taylor nur zur Hälfte: Es geht nicht nur um Anerkennung von individueller Identität, sondern um das „Ethos im Ethnos“: um ethnisch spezifische Lebensführung und auf ethnischen Werten beruhende Gemeinschaftlichkeit. Ausgenommen von dieser Akzeptanz – hier stimme ich Preuß zu – sollte allerdings das juridische System der Blutrache sein oder das kulturelle der Klitorisbeschneidung; beides sind Beispiele völliger normativer Unvereinbarkeit, Unvereinbarkeit mit allgemeinen heutigen Menschenrechten.
Ethnische, minoritäre Gemeinschaftlichkeit ist freilich so radikal neu in Deutschland nicht, wie es sich im modifiziert homogenen Gartenmodell von Preuß darstellt: Denken wir nur an die Akzeptanz ethnischer und religiöser Minderheiten in Preußen, und nicht nur unter Friedrich dem Großen. Zudem sollte man meinen, dass aufgrund der langen Debatten um die jüdische Minderheit in Deutschland und der Zelebrierung des jüdischen Andersseins sich in den letzten Jahrzehnten auch für andere ethnische Minoritäten neue Wege gebahnt hätten; dies ist leider nicht der Fall.
Deswegen wird in der breiteren öffentlichen Diskussion auch nicht thematisiert, wie stark Einwanderergruppen kulturell bereichern. Ein Stöhnen scheint durch Deutschland zu gehen angesichts der Aufnahme von Einwanderern als notwendigem Übel zur deutschen Alterssicherung und der Lösung von Softwareproblemen. Aber es geht nicht nur um deutsche Renten. Die Vitalität von Einwanderergesellschaften, von Nordamerika bis Israel, ist ohne den kulturellen Reichtum, den Zuwanderer in diese höchst arbeitsteiligen Gesellschaften einbringen, nicht zu denken. Dieses kulturelle Kapital wird freilich nicht allein von einzelnen Individuen geschaffen, sondern in ethnischen Gemeinschaften und dank ihrem Beharren auf Anderssein reproduziert. Dies sollten wir nicht nur respektieren, sondern fördern – und zwar nicht nur mit deutschen Sprachkursen, sondern auch mit Kursen in den Heimatsprachen für Einwandererkinder der zweiten Generation und finanzieller Förderung ihrer Kultur. Y. MICHAL BODEMANN
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