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Tunnel unter GazaDas Spinnen­netz der Hamas

Hunderte Kilometer Tunnel soll die Terrorgruppe unter dem Küstenstreifen gegraben haben. Für Israels Armee nicht nur eine strategisches Problem.

Vereinzelt konnten sich Jour­na­lis­t*in­nen ein Bild des großteils geheimen Tunnelnetzwerks machen, hier eine Aufnahme aus dem vergangenen Jahr Foto: Dawoud Abo Alkas/Zuma/imago

Berlin taz | Es ist ein Albtraum für jedes Militär, auch für hochmoderne Armeen: ein weitverzweigtes Tunnelsystem unter einem Gebiet, das vielerorts so dicht besiedelt ist wie eine Stadt. Schon für sich allein wären die Tunnel der Hamas im Gazastreifen eine Herausforderung für Is­raels Armee, doch hinzu kommt noch, dass im Untergrund von Gaza die mehr als 200 Geiseln vermutet werden, die während des Hamas-Massakers am 7. Oktober verschleppt wurden.

„Stellen Sie sich Gaza vor als eine Ebene für Zivilisten und eine weitere für die Hamas“, veranschaulichte ein israelischer Armeesprecher die Lage, „wir versuchen, zu dieser zweiten Ebene zu kommen.“ Die 85-jährige Yocheved Lifschitz, eine der wenigen freigelassenen Geiseln, sprach nach ihrer Rückkehr nach Israel von einem regelrechten „Spinnennetz“, durch das sie sich in ihrer Gefangenschaft bewegen musste.

Die Zerstörung dieses Spinnennetzes ist neben der Befreiung der Geiseln eines der Hauptziele Israels im Gazastreifen, vermutlich deutlich wichtiger als die Ausschaltung von Hamas-Kämpfern. Letztere können – auch vor dem Hintergrund der beispiellosen Zerstörung und der hohen zivilen Opferzahl – leicht ersetzt werden. Die Tunnelinfrastruktur von Grund auf neu zu errichten, würde dagegen Jahre dauern, wenn nicht Jahrzehnte.

Ein asymmetrischer Krieg?

Kriegs­ex­per­t*in­nen sprechen oft von einer Asymmetrie, wenn es wie aktuell um eine Auseinandersetzung zwischen einer ultramodernen Armee mitsamt Luftwaffe und einer Terrorgruppe wie der Hamas geht, deren Schlagkraft mit der israelischen Armee nicht vergleichbar ist. Doch dabei bleibt das Tunnelnetz außer acht: „Unterirdische Kriegsführung verringert das Ungleichgewicht und macht sie für Terrorgruppen überall attraktiv“, argumentiert Daphné Richemond-Barak von der Reichman-Universität in Tel Aviv, eine der führenden Ex­per­t*in­nen für das Tunnelsystem der Hamas, in einem Artikel für Foreign Policy.

Auch der Militärfachmann Carlo Masala von der Bundeswehr-Universität in München sieht in den Tunneln der Hamas eine „enorme Bedrohung“. Er spricht von einer „dritten Dimension“. In der Regel komme das Risiko für eine Armee von vorne und von oben, also von feindlichen Bodentruppen oder der Luftwaffe. Sobald aber Tunnel im Spiel sind, komme die Bedrohung auch von unten. Auch ließe sich nicht ausschließen, dass feindliche Kräfte plötzlich hinter einem erscheinen.

„Man muss immer befürchten, dass der Feind über die Tunnelsysteme plötzlich im Rücken auftaucht.“ Wie weit verzweigt die Tunnel unter Gaza genau sind, ist nicht bekannt. Die Hamas selbst spricht von 500 Kilometern, was eine Übertreibung sein dürfte. Mehrere hundert Kilometer könnten es jedoch tatsächlich sein. Zum Vergleich: Das Netz der U-Bahn in München hat eine Gesamtlänge von rund 100 Kilometern, das in Berlin rund 150.

Der Gazastreifen ist durchzogen von verschiedenen Arten von Tunneln: Angriffstunnel, die auf israelisches Gebiet führen, aber auch Schmuggeltunnel, die vor allem an der Grenze zu Ägypten sehr verbreitet waren, bevor die Regierung in Kairo sie mit Meerwasser flutete und zum Einsturz brachte. Schließlich – und das ist aktuell die Herausforderung für Israels Bodentruppen – sind da noch die Tunnel innerhalb Gazas, die es den Hamas-Terroristen erlauben, sich klandestin zu bewegen. Rein in die Tunnel und wieder an die Oberfläche geht es über Luftschächte, unscheinbare Türen oder durch die Keller von Privathaushalten.

20 Jahre Arbeit am Tunnelsystem

Unter Grund sollen sich auch Waffenlager und Kommandoräume befinden. Teils seien die Gänge nur zu Fuß passierbar, teils könnten sich Fahrzeuge darin unter Grund bewegen, vermuten Beobachter*innen. Nach israelischen Angaben befindet sich unterhalb der Al-Schifa-Klinik in Gaza-Stadt, dem wichtigsten Krankenhaus des Gazastreifens, sogar eine große Kommandozentrale, die von der Hamas und der Terrorgruppe Islamischer Dschihad gemeinsam genutzt werde.

Dass das Krankenhaus der Hamas für ihre Zwecke dient, berichtete unabhängig auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bereits in einem Bericht von 2015. Darin hieß es, dass Teile der Klinik von der Hamas zur Inhaftierung, für Verhöre und für Folter genutzt werden. Von unterirdischen Räumlichkeiten unter Al-Schifa war damals allerdings noch nicht die Rede.

Rund 20 Jahre lang hat die Hamas an ihrem Tunnelsystem gearbeitet. Schon bevor Israel seine Armee 2005 aus dem Gazastreifen zurückzog und auch die Siedlungen in dem Küstenstreifen räumte, soll es erste Tunnel gegeben haben. Richtig los ging es jedoch erst nach der Machtübernahme der Hamas 2007 und dem Gazakrieg von 2014.

2014, als Bodentruppen zuletzt in Gaza einmarschierten, um zunächst Raketenangriffe auf Israel zu unterbinden, entdeckte die Armee das damalige Ausmaß des Tunnelsystems. „Zehn Tage nach Beginn des Konflikts verlagerte sich das Hauptziel der Operation plötzlich auf die Entdeckung und Neutralisierung einer Reihe von neu entdeckten geheimen Angriffstunneln, die die Armee überrascht hatten“, heißt es in einer Studie der Universität von Birmingham. Neben vereinzelten journalistischen Berichten sind es unter anderem die damals gesammelten Informationen der Armee, die Rückschlüsse auf das heutige Tunnelsystem zulassen.

Durch Sprengfallen geschüzt

Zerstört wurden damals nach israelischen Angaben 32 Tunnel, von denen rund die Hälfte auf israelisches Gebiet führte. Im kurzen Krieg 2021 sollen nach Armeeangaben weitere 100 Kilometer Tunnel zerstört worden sein, auch das zu diesem Zeitpunkt wohl nur ein Teil des Netzwerks.

Richemond-Barak von der Reichman-Universität weist auf eine wichtige Unterscheidung hin: der zwischen Neutralisierung und Eliminierung. Die Tunnelexpertin geht davon aus, dass Israel sich aktuell nicht damit zufrieden geben wird, die Tunneleingänge zu blockieren oder die gesamten Tunnel mit Zement zu füllen, eine Technik, die etwa bei Schmuggeltunneln an der mexikanisch-amerikanischen Grenze Anwendung fand. Eliminierung heiße, die Tunnel auf ihrer gesamten Länge einbrechen zu lassen, mitsamt Wänden und Dach. Von einem „hard kill“ spricht Richemond-Barak.

Wie das ginge, erklärt Masala: „Effektiv zerstören lassen sich Tunnel durch bunkerbrechende Waffen oder Waffen, die tief ins Erdreich penetrieren und erst 30 oder 40 Meter unter der Erde explodieren.“ Theoretisch, sagt er, könnte man die Tunnel zwar fluten wie die Schmuggeltunnel an der Grenze zu Ägypten, aber dafür sei das Netz der Hamas zu ausgedehnt.

Solange nicht das gesamte Netz zerstört ist, bleiben die Tunnel eine Herausforderung für Israels Armee. Vor wenigen Tagen wurden vier Sol­da­t*in­nen durch eine Explosion in einem mit Sprengfallen versehenen Tunnel getötet. Die Soldaten hätten sich jedoch nicht hineinbegeben, betonten israelische Medien. „Die Israelis meiden dieses Szenario, weil man nicht ausschließen kann, dass die Tunnel mit Sprengfallen versehen sind“, sagt Masala. „Die israelische Armee ist deshalb ex­trem zurückhaltend, in die Tunnel reinzugehen. Sie weiß nicht, was ihr da begegnet.“

Die Opferzahlen im Blick haben

Vor allem ist es die technische Überlegenheit der israelischen Armee, die durch eine Kriegsführung unter Grund relativiert werden würde. Moderne Drohnen und Roboter könnten teilweise für Aufklärung innerhalb der Tunnel sorgen, wo Wärmebildkameras versagten, erklärt Masala. Ein Restrisiko bleibe aber immer. Richemond-Barak sieht daher in erster Linie die Luftwaffe gefragt:

wochentaz

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„Auch wenn die Aufmerksamkeit mittlerweile auf Israels Bodenoffensive gilt, ist die Eliminierung des Tunnelnetzwerks eher ein Job für Israels Luftwaffe.“ Eine komplette Eliminierung des Netzwerks halten allerdings sowohl sie als auch Masala für unrealistisch: „Ich gehe davon aus“, sagt Masala, „dass die Israelis nicht über detaillierte Pläne verfügen, wie viele Tunnel es gibt, wo die Tunnel liegen und vor allem, wie sie miteinander verbunden sind.“

Der Drahtseilakt für Israel besteht in den nächsten Wochen darin, dem Tunnelnetz anders als 2014 und 2021 einen so weitgehenden Schaden zuzufügen, dass eine Instandsetzung nicht innerhalb weniger Jahre machbar wäre, gleichzeitig die eigenen Truppen zu schützen und die Opferzahlen auf palästinensischer Seite im Blick zu behalten.

„Sie riskieren bei der Zerstörung von Tunneln unter Wohnvierteln, dass alles darüber auch zusammenbricht“, sagt Masala, „Sie erzeugen also jede Menge zivile Opfer.“ In diesem Krieg, auf den die Welt blickt und den Israel nur mit internationaler Unterstützung führen kann, ist das jenseits aller moralischen Aspekte auch ein strategischer Faktor.

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2 Kommentare

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    06438 (Profil gelöscht)

    Für Palästinenser gibt es keine Aussicht auf eine friedliche Zukunft mit einer djihadistischen Terrortruppe im Untergrund. Wie weit die Kooperation von Teilen der Bevölkerung Gazas mit der menschenverachtenden Terrorgruppe geht wird erst jetzt in Umrissen sichtbar - wie anders als über die Wanderarbeiter aus Gaza sind die Informationen über die Lebensverhältnisse der Bewohner der überfallenen Dörfer in Israel wohl an die Terrororganisation Hamas gelangt.

    Wie weit die Unterstützungsgelder aus der ganzen Welt für die Palästinenser von Hamas missbraucht und kanalisiert werden, um den Teufelskreis von Armut, Perspektivlosigkeit, Radikalisierung und Hass aufrecht zu erhalten wird als nächstes in den Fokus der Diskussionen gelangen.

    Desweiteren: Das Terrortunnelsystem gibt es ja nicht nur in Gaza - die Hizbollah im Südlibanon arbeitet an ähnlichen Systemen mit dem Unterschied zu Hamas, das Hizbollah militärisch sehr viel stärker ist. Das bedeutet: Die Terrortunnelfestung darf kein Erfolg werden weil es sich sonst verdoppelt.

    Anrainerstaaten oder direkte Nachbarn wie Jordanien und Ägypten haben auch kein Interesse an der Terrororganisation Hamas und sehen sich selbst durch djihadistischen Terror gefährdet.

    Wie man das Problem - seit Jahrzehnten - auch dreht und wendet: Israel wird, am besten mit anderen Staaten zusammen, auch für Wohlergehen, Prosperität und Perspektiven für die Palästinenser sorgen müssen. Das Modell Gaza in der Form seit der gewalttätigen Machtübernahme von Hamas 2006 ist gescheitert.. Befreiung Palästinas von Hamas - einen anderen ersten Schritt gibt es nicht.

  • Für mich sind die Hamas die Ewig-Gestrigen, die in der Vergangenheit und in Illusionen leben. Das ganze Geld und die Arbeit die in Tunnels und Primitiv-Raketen investiert worden ist, hätte genutzt werden können um Gaza autark zu machen, mit Solarenergie, Wellenenergie, solarthermischer Entsalzung usw. Damit hätte man eine erheblich bessere politische und wirtschaftliche Situation gegenüber Israel geschaffen. Der militärische Wert der Tunnel ist taktisch, aber nicht strategisch. Die "weitergehende Strategie" der Hamas scheint die Mobilisierung der internationalen Öffentlichkeit zu sein, was eigentlich natürlich ein Eingeständnis der eigenen Schwäche und des Mangels an Perspektive ist.