Tunesischer Exil-Oppositioneller Marzouki: "Schlimmer kann es gar nicht werden"
Aus Angst vor dem Islamismus hat Europa arabische Diktatoren wie Ben Ali viel zu lange gestützt. Deren Tage sind gezählt, meint der tunesische Exil-Oppositionelle Moncef Marzouki.
taz: Herr Marzouki, als Reaktion auf die Proteste in seinem Land hat Tunesiens Präsident Ben Ali am Donnerstag in einer Fernsehansprache versprochen, zum Ende seiner aktuellen Amtszeit im Jahr 2014 zurückzutreten. Er versprach außerdem Arbeitsplätze, einen Korruptions-Auschuss und grundlegende Reformen. Was halten Sie davon?
Moncef Marzouki: Die Regierung Ben Alis steht vor dem Totalbankrott. Das Volk glaubt diesem mafiösen Diktator nichts mehr. Jetzt, in diesem Moment, zerstören die Leute überall im Land sein Porträt: und alle wollen die Absetzung von Ben Ali. Nun verspricht er 300.000 Arbeitsplätze. Aber die Tunesier haben genug von solchen Versprechungen. Sie haben genug von diesem Regime, von diesem Mann. Das ist eine politische und soziale Revolution, in den Städten und auf dem Land. Das Land ist längst reif dafür.
Ben Ali wurde im Ausland bisher zwar als Diktator, aber auch als Modernisierer gesehen. Stimmt das?
MONCEF MARZOUKI trat bei den Wahlen 1994 als Kandidat gegen Ben Ali an. Im Jahr 2000 wurde er zu einem Jahr Haft verurteilt und verlor seinen Posten an der Uni in Sousse. 2002 verließ er Tunesien, seither lebt er im Exil in Paris.
Das ist absolut falsch. Sein Vorgänger Habib Bourguiba war der Modernisierer: Auch er war ein Autokrat, aber er hat die Republik und die säkulare Verfassung, also die Trennung von Staat und Religion, die Schulpflicht und die Gleichstellung der Frau eingeführt. Ben Ali hat einige dieser Reformen wieder zurückgedreht. Als Ben Ali 1987 die Macht übernahm, sagte er, Tunesien sei reif für die Demokratie, und er versprach demokratische Entwicklung. Stattdessen hat er die Präsidentschaft auf Lebenszeit eingeführt, die Menschenrechte mit Füßen getreten, die Parteienvielfalt unterbunden, die Presse zensiert. Das Land wird ausgesaugt - von ihm, seiner Frau und den Brüdern seiner Frau. Er kauft sich zum eigenen Vergnügen einen Airbus für 400 Millionen - und nach Sidi Bouzid, wo die Revolte ihren Anfang nahm, sollen jetzt 15 Millionen fließen? Das ist doch lächerlich!
Bis jetzt konnte Ben Ali auf ein viel gelobtes Wirtschaftswunder verweisen. Was ist damit?
Das sehen Sie doch: Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und eine Clique, die sich selbst bereichert. Eine totale ökonomische Liberalisierung mit einem Wirtschaftswunder gleichzusetzen ist blanker Hohn. Es gab nie zuvor so viel Korruption in diesem Land.
In Deutschland schreibt die tunesische Botschafterin in einem Rundbrief, die Krise sei ausschließlich wirtschaftlicher Natur, und warnt vor "Desinformationskampagnen der Medien", die nur den Extremisten dienten. Was ist davon zu halten?
Wir haben es hier mit einer Revolution zu tun, gegen die unerträgliche Korruption und den Polizeistaat. Das ist ein Aufstand des ganzen Volkes: Intellektuelle und Arbeiter, Männer und Frauen.
Welche Rolle spielt die EU dabei?
Die Europäische Union wünscht sich Stabilität, Prosperität und Demokratie in ihrer Nachbarschaft. Aber sie unterstützt nicht die arabischen Völker, sondern Diktatur, Armut, Extremismus und soziales Chaos. In Tunesien hat sie eine korrupte und mafiöse Diktatur gestützt. Das ist gegen ihre Prinzipien, aber vor allem verrät sie damit auf lange Sicht ihre ureigensten Interessen. Sie glaubt, mit einem Polizeistaat wie dem von Ben Ali würde sie den Islamismus bekämpfen. Aber der Islamismus in seinen Wurzeln lässt sich garantiert nicht durch einen Polizeistaat bekämpfen.
Manche fürchten auch jetzt, die Islamisten könnten Auftrieb erhalten.
Während der seit nunmehr vier Wochen anhaltenden Auseinandersetzungen waren die Islamisten nicht präsent. Was wir jetzt haben, ist eine laizistische, politische Bewegung gegen Ausbeutung und Diktatur. Man sollte endlich damit aufhören, Ben Ali das Islamisten-Alibi abzunehmen. Es gibt keine Islamisten, die die Menge manipulieren.
Was erwarten Sie jetzt von der EU?
Ich erwarte mir etwas von der europäischen Zivilgesellschaft - dass sie versteht, dass ihre politischen Vertreter mit der Unterstützung dieses diktatorischen Regimes auf lange Sicht die Interessen Europas verraten. Ich hoffe, dass in Europa der Druck gegen die Zusammenarbeit mit diesem repressiven System wächst. Und man sollte aufhören zu glauben, dass die Islamisten das Land übernehmen werden, wenn Ben Ali verschwindet.
Wer könnte sonst an seine Stelle treten, wenn Ben Ali abtritt?
Es gibt in Tunesien genug Demokraten, verantwortliche Männer und Frauen, die sich demokratischen Prinzipien verpflichtet fühlen und gute Beziehungen zu Europa pflegen werden. Europa kann von einem politischen Wechsel im südlichen Mittelmeer nur profitieren.
Bisher scheint die Gewerkschaft UGTT die einzige politische Gegenkraft zu sein: Sie hat sich hinter die Demonstrationen gestellt, den Generalstreik organisiert und den Abzug von Polizei und Armee verlangt. Gibt es noch andere Alternativen?
Die Parteien sind zerschlagen, die Opposition ist im Gefängnis oder im Exil. In einer Diktatur wird eben keine politische Opposition geduldet. Aber es gibt einen zivilgesellschaftlichen Widerstand und eine starke politische Strömung, die drei Dinge fordert: erstens den Rücktritt von Ben Ali. Zweitens eine Interimsregierung, die, drittens, in einigen Monaten freie und faire Wahlen organisieren soll.
Das klingt noch sehr vage. Haben Sie keine Angst vor einem langfristigen politischem Chaos?
Kann es instabiler und chaotischer sein als jetzt?
Auch in Algerien gab es Proteste. Könnte es, nach dem Schneeballprinzip, zu weiteren Erhebungen im Maghreb oder in anderen arabischen Ländern wie Ägypten kommen?
Der Schneeball ist längst ins Rollen gekommen. Zuerst waren es die Ägypter, die gegen die Diktatur aufstanden, dann die Tunesier und Algerier. Nicht ausgeschlossen, dass sich morgen die Jordanier oder Syrer erheben. Es sind die gleichen Diktaturen, die gleichen Regimes. Und die arabischen Völker haben genug davon. In all diesen Ländern ist etwas im Gange. Wenn Europa das nicht versteht, dann versteht es nichts von der arabischen Welt.
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