Tunesien vor der Wahl: Neue Grabenkämpfe in Sicht
Erst Präsidentschafts-, dann Parlamentswahl: In Tunesien könnten die gemäßigten Islamisten der Ennahda ihren Einfluss ausbauen.
![Leute mit Tunesien-Fähnchen Leute mit Tunesien-Fähnchen](https://taz.de/picture/3640922/14/23531065.jpeg)
Schon der erste Wahlgang im September wird spannend, weil aus allen politischen Lagern mehrere hochkarätige Bewerber auf dem Stimmzettel stehen. Im gemäßigt islamistischen, der Muslimbruderschaft zugerechneten Spektrum treten neben Abdelfattah Mourou, dem Kandidaten der Ennahda-Partei, auch der ehemalige Regierungschef Hamadi Jebali und der erst im Juli aus der Partei ausgetretene Hatem Boulabiar an.
Auch aus der chancenlosen Linken treten mehrere Kandidaten an und im wirtschaftsliberal-säkularen, antiislamistischen Lager tummeln sich gleich fünf ehemalige Führungsköpfe der Partei Nidaa Tounes des im Juli verstorbenen Ex-Präsidenten Beji Caid Essebsi.
Klarer Favorit für den Einzug in die Stichwahl ist derweil der ehemalige Nidaa-Politiker und umstrittene Mehrheitseigner des Fernsehsenders Nessma TV, Nabil Karoui, der sich als Volkstribun gebärdet und seinen ohne Lizenz arbeitenden Sender unverblümt für politische Zwecke einspannt, gleichzeitig aber in einem Sumpf von Korruptionsvorwürfen versinkt.
In der vergangenen Woche erst war Karoui auf Grundlage einer Anklage wegen Geldwäsche und Steuerhinterziehung verhaftet worden, darf aber nach aktueller Sachlage trotzdem kandidieren – auch wenn er hinter Gittern sitzt.
Ennahda als stabilste politische Kraft
Die von persönlichen Ambitionen und erbitterten Feindschaften unterfütterte Selbstzerfleischung von Nidaa Tounes dürfte für den moderat auftretenden Mourou von Vorteil sein. Seine Ennahda, die derzeit stärkste Kraft im Parlament, erwies sich in der letzten Legislaturperiode als stabilste politische Kraft im Land. Zwar wurde auch die Ennhada-Fraktion durch abwandernde Parlamentarier dezimiert, jedoch deutlich weniger heftig als Nidaa Tounes, die seit 2014 regelrecht auseinandergefallen ist.
Unklar ist jedoch, wie loyal Ennahdas Basis zur Partei steht und ob Mourou mit seiner auf Überparteilichkeit setzenden Rhetorik auch in andere Wählerschichten vorzudringen vermag. Die Angst vor einer zu dominanten Ennahda in Tunesiens Politik bleibt bestehen. Der Partei wird bis heute unterstellt, sich pragmatisch zu geben, aber eigentlich eine deutlich konservativere Agenda zu verfolgen.
Vor allem in linken und liberalen Kreisen wird ihr vehement misstraut. Dennoch sieht es danach aus, dass Ennahda ihren politischen Einfluss in den kommenden Monaten wird ausbauen können. Auch bei der Parlamentswahl, die bereits im kommenden Oktober ansteht, dürften die Islamisten stark abschneiden.
Die Bevölkerung blickt dem im September anstehenden Urnengang derweil ernüchtert entgegen. Politische Ränkespiele und ein nicht enden wollendes Kompetenzgerangel zwischen Regierungschef Youssef Chahed und Ex-Präsident Essebsi haben nicht grundlos den Eindruck entstehen lassen, Tunesiens politische Klasse sei vor allem mit sich selbst beschäftigt, während dringende soziale und wirtschaftliche Probleme in marginalisierten Teilen des Landes kaum angepackt werden. Auch Tunesiens neu gewählte politische Führung dürfte daran wenig ändern, davon sind viele Menschen überzeugt.
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