Tunesien im Generalstreik: Stillstand in Tunis
Ein Generalstreik legt das öffentliche Leben in Tunesien lahm. Mehr als 650.000 Angestellte des öffentlichen Dienstes erschienen nicht zur Arbeit.
Der mächtige Gewerkschaftsdachverband UGTT hatte zum Generalstreik aufgerufen, um für höhere Löhne und politische Reformen zu demonstrieren. Lohnverhandlungen zwischen der Regierung von Ministerpräsident Youssef Chahed und der UGTT waren am Dienstag gescheitert.
„Dégage!“, riefen die Demonstranten im Chor. „Hau ab!“ Die Forderung galt der gesamten politischen Elite, sowohl der Regierung Chaheds als auch dem 92-jährigen tunesischen Präsidenten Beji Caid Essebsi.
„Für uns sind die sowieso alle gleich“, sagt Hassan Nahdi der taz, der bei der Stadtverwaltung von Tunis arbeitet. „Die Gleichgültigkeit gegenüber der Korruption und den vernachlässigten Regionen in Südwesttunesien ist bei allen Politikern identisch.“
Durchschnittslohn auf chinesischem Niveau
„Unsere Kinder wollen Jobs“, erzählen einige Männer vor dem Sitz der UGTT in Tunis. Mit 200 Euro liegt der Durchschnittslohn in Tunesien noch immer auf chinesischem Niveau.
Viele in der Hauptstadt nutzten den Stillstand am Donnerstag auch für einen Spaziergang und um über die Wirtschaftskrise im Land zu diskutieren. Die Arbeitslosenrate liegt bei 15 Prozent, besonders hoch ist sie unter Jugendlichen. Vor allem Akademiker finden oft keine Arbeit. Die Inflationsrate liegt bei 7,5 Prozent. Die UGTT erscheint vielen als einziger Hoffnungsträger in Anbetracht der strikten Sparauflagen des Internationalen Währungsfonds (IWF), der das Land mit Krediten in den finanziellen Kollaps getrieben hat.
Die einflussreichen Gewerkschaften können deutlich mehr Menschen mobilisieren als die beiden Regierungsparteien Nida Tounis und Ennahda. Während sich die moderaten Islamisten von Ennahda mit Äußerungen im Streit um die Lohnerhöhungen zurückhielten, kritisierten der Regierungschef und der Präsident die Forderungen der Demonstranten scharf: „Ohne Wirtschaftswachstum kann es keine Lohnsteigerungen geben“, sagte Chahed.
Bereits in den vergangenen Wochen hatte es in einigen Regionen Tunesiens Proteste und Ausschreitungen gegeben. Im Dezember war ein Journalist gestorben, der sich aus Protest gegen die wirtschaftlichen Bedingungen im Land selbst angezündet hatte. Eine solche Selbstverbrennung hatte vor acht Jahren den sogenannten Arabischen Frühling ausgelöst. In Tunesien kommt es seit Jahren im Dezember und Januar in der Zeit um den Jahrestag der Revolution von 2011 zu Demonstrationen und Ausschreitungen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Experten kritisieren Christian Lindner
„Dieser Vorschlag ist ein ungedeckter Scheck“
Soziologe über Stadt-Land-Gegensatz
„Die ländlichen Räume sind nicht abgehängt“
Regierungskrise der Ampel
Schmeißt Lindner hin oder Scholz ihn raus?
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke