Türkische Wähler in Deutschland: Entspannte Schicksalswahl
Für die Wahlen in der Türkei stimmen auch bis zu 1,26 Millionen türkische Staatsbürger in Deutschland ab. Es ist einiges anders als die Jahre zuvor.
zgür Gündüzkanat ist verwirrt. Der junge Mann sitzt vor dem türkischen Generalkonsulat in Berlin und wartet auf seinen Freund, der hier gerade wählen gegangen ist. „In der Türkei sind AKP-Wähler leichter von ihrer Haltung abzubringen als in Deutschland“, sagt der junge Mann verwundert und muss lachen. „Sie gucken hier zu viel türkisches Fernsehen.“ Özgür Gündüzkanat ist mit seinem Freund erst vor etwa zwei Jahren zum Studieren von Istanbul nach Deutschland gezogen. Er hat einen anderen Blick auf das, was sich da gerade vor seinen Augen abspielt.
Etwa 1,26 Millionen türkische Staatsbürger*innen über 18 Jahren leben laut Statistischem Bundesamt in Deutschland, sie haben an diesem Dienstag die letzte Gelegenheit, ihr Votum für die diesjährige Parlaments- und Präsidentschaftswahl in der Türkei abzugeben. Die Abstimmungen verliefen in diesem Jahr mehr oder weniger geräuschlos. Keine Selbstverständlichkeit angesichts der vergangenen Male, als in der Wahrnehmung der deutschen Mehrheitsgesellschaft Türk*innen hierzulande in den Wahlbüros übereinander herfielen. Mehrere Wahlgänge hatten gewissermaßen zu einer Staatskrise zwischen Ankara und Berlin geführt. In diesem Jahr ist hier alles ruhig – obwohl es in der Türkei eine der turbulentesten Wahlen der vergangenen Jahrzehnte werden dürfte.
Vor dem türkischen Generalkonsulat in Berlin-Charlottenburg hat sich am vergangenen Freitag eine kleine Schlange gebildet. Etwa 50 Menschen stehen an, um in dem Wahlbüro, das hier auf dem Gelände der diplomatischen Vertretung aufgebaut ist, ihre Stimme abzugeben. Özgür Gündüzkanat sitzt gegenüber vom Konsulat und beobachtet das Treiben. Er darf im ersten Wahlgang nicht wählen, weil er mit seiner Registrierung für die Auslandswahllisten zu spät dran war. Sein Freund durfte abstimmen und schlägt fröhlich mit ihm ein, nachdem er sein Votum abgegeben hat. Gündüzkanat und sein Freund Ozan Şahin, beide sind 27 Jahre alt, bekennen sich zur türkischen Opposition.
Die Abstimmungen am 14. Mai gelten als schicksalhaft, weil den Umfragen zufolge Präsident Recep Tayyip Erdoğan erstmals einen ernsthaften Konkurrenten mit breiter politischer Rückendeckung hat: Kemal Kılıçdaroğlu von der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP. Der anfangs auch innerhalb seiner eigenen Partei umstrittene, weil als zu schwach empfundene Kandidat hat ein ideologisch eigentlich unmögliches Wahlbündnis geschaffen, das nun fest hinter ihm steht. Von der Arbeiterpartei der Türkei bis zu den Nationalisten von der Iyi Parti, von der kurdischen HDP bis zu den religiös orientierten Parteien zweier ehemaliger AKPler: Explizit oder implizit – weil sie keinen eigenen Präsidentschaftskandidat*in aufgestellt haben – rufen sie zur Wahl Kemal Kılıçdaroğlus auf.
Dreimal am Tag mit dem Shuttle zum Wahlbüro
Auch in Deutschland ruhen in progressiven türkischen Kreisen viele Hoffnungen auf ihm. In 16 Konsulaten von München über Karlsruhe bis Bremen und an einem weiteren Standort in Kassel konnten türkische Staatsbürger seit dem 27. April ihre Stimme abgeben. Vielerorts wird in Gruppen zu den Wahlstandorten mobilisiert.
Auch die alevitische Gemeinde in Berlin hat einen Shuttle-Service zum türkischen Generalkonsulat eingerichtet und fährt dreimal am Tag aus Berlin-Kreuzberg in das etwa 15 Kilometer entfernt gelegene Wahlbüro im Stadtteil Charlottenburg. Türkische Arbeiter*innen, Gewerkschaftsgruppen und alevitische Vereine: All dies sind Gruppen, die für den Wandel in der Türkei in Deutschland Kampagne machen. Insgesamt leben nach Angaben des Statistikamtes für Berlin und Brandenburg knapp 86.000 türkische Staatsbürger über 18 Jahren in der Region.
Die Aleviten in Berlin mobilisieren unter anderem für die Grüne-Linke-Partei (Yeşil Sol Parti) in der Türkei. Denn am 14. Mai wird dort nicht nur der Präsident direkt vom Volk gewählt, sondern auch das Parlament. Um in die Kammer in Ankara einzuziehen, müssen die Parteien eine 7-Prozent-Hürde knacken, und die Grün-Linken liegen Hochrechnungen zufolge bei derzeit etwa 10 Prozent. Auf den Listenplätzen der Partei kandidieren fast ausschließlich Kandidat*innen der kurdisch-linken HDP – ein Schachzug der HDP, da der Partei wegen eines laufenden Verbotsverfahrens in der Türkei kurz vor den Abstimmungen der Wahlausschluss drohen könnte.
Erst kürzlich hat die HDP ihre Wähler*innen dazu aufgerufen, bei den Präsidentschaftswahlen für den gemeinsamen Kandidaten des Oppositionsbündnisses, Kemal Kılıçdaroğlu, zu stimmen. Über den Kandidaten diskutieren die sieben Menschen im Bus der alevitischen Gemeinde zum Berliner Wahlbüro. Kılıçdaroğlu hat sich in einem millionenfach geteilten Video zum Alevitentum bekannt. Ein Novum in der Türkei, in der Schätzungen zufolge zwar 25 bis 30 Millionen Alevit*innen leben, diese ihren Glauben aber oft geheim halten, weil sie von Diskriminierung und Gewalt betroffen sind.
Für viele im Bus ist klar: Kılıçdaroğlu hat durch sein Bekenntnis die Flucht nach vorn versucht, um seinen Kritikern den Wind aus den Segeln zu nehmen. „Die Menschen in der Türkei wussten ohnehin, dass Kılıçdaroğlu Alevit ist“, sagt Ali Murteza Şahin. Er ist einer der Organisatoren des Wahl-Shuttles und bekennt sich als Laizist. Er sagt, die Konfession Kilicdaroğlus sollte eigentlich gar keine Rolle spielen bei der Wahl, wichtiger sei doch seine politische Haltung. „Seine Gegner werden trotzdem nicht aufhören, über seinen Glauben zu reden.“
Bei den Wahlen stehen in der Türkei grundsätzliche Richtungsentscheidungen zur Abstimmung. Aus deutscher Perspektive handelt es sich wieder einmal um einen hoch polemischen und emotionalisierten Wahlkampf, bei dem man allein schon durch das Lesen der Schlagzeilen schwitzige Hände bekommen kann: Kemal Kılıçdaroğlu hat angekündigt, er werde die von Erdoğan 2017 per Referendum durchgesetzte Verfassungsänderung rückgängig machen und die Türkei wieder in eine parlamentarische Demokratie verwandeln.
Dabei sieht es so aus, als hätte die Opposition ein Momentum erreicht, das es so schon lange nicht mehr gab. Kılıçdaroğlu und Erdoğan liegen Kopf an Kopf, erreicht keiner der beiden Präsidentschaftskandidaten im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit, kommt es am 28. Mai zu einer Stichwahl.
Szene wie eine gemütliche Bundestagsabstimmung
Neben den Alevit*innen mobilisiert auch der Berliner CHP-Ableger mit mehreren Shuttlediensten pro Tag in das Türkische Konsulat in Berlin. Dort bildet sich am Freitag nach der Öffnung der Wahlbüros eine Schlange aus etwa 100 Menschen vor dem Innenhof der diplomatischen Vertretung. Ein Dutzend Sicherheitskräfte in gelben Westen kontrollieren am Einlass Taschen und türkische Ausweise. Es geht zügig voran, und die sechs Wahlberechtigten, die mit dem Bus der alevitischen Gemeinde hergekommen sind, stehen innerhalb von weniger als fünf Minuten vor den Wahlkabinen.
Abstimmen können sie in einem der Container, die im Innenhof der Botschaft unter zwei großen Kiefern aufgebaut sind. Die Sonne scheint, und von der Stimmung einer aufgeladenen Schicksalswahl ist hier gar nichts zu spüren. Vielmehr erinnert die Szenerie an eine gemütliche Bundestagsabstimmung etwa in einem bürgerlichen Stadtteil Stuttgarts, wo sich die Menschen schick machen und der Wahlgang sie feierlich stimmt.
Alev Ayhan beobachtet die Abstimmungen. Sie ist als Gesandte der CHP an diesem Tag eine der fünf Vertreter*innen der Wahlkommission vor Ort. Das Gremium besteht in Berlin aus fünf Mitgliedern: drei Parteivertreter*innen von AKP, MHP und CHP und zwei Konsulatsbeamt*innen. Ayhan wirkt gelassen, sie sagt, die Abstimmungen seien gut organisiert. „Wir arbeiten in der Wahlkommission freundlich zusammen.“
Unter der Woche seien hier zehn Wahlurnen aufgestellt, an den Wochenenden zwölf. Von 9 bis 21 Uhr kann man hier abstimmen, und am Ende eines Tages werden die abgegeben Voten in einem Sack gesammelt und weggeschlossen. Laut CHP wurden hier an den ersten sieben Tagen der Wahl im Schnitt etwa 4.530 Stimmen am Tag abgegeben. Für wen abgestimmt wurde, wird in Berlin nicht bekannt werden: Gezählt werden hier nur die abgegebenen Stimmen, geöffnet werden die Zettel erst in der Türkei, wenn am Abend des 14. Mai dort die Wahlbüros zu sind.
Das Prozedere, wie mit den Auslandsstimmen verfahren wird, erinnert an einen Polit-Thriller: In Berlin besitzen die drei Parteimitglieder der Wahlkommission jeweils einen Schlüssel zum Raum mit den abgegebenen Stimmen. Sind nicht alle Beigeordneten anwesend, kann das Schloss nicht geöffnet werden. Nachdem das Wahlbüro geschlossen hat, wird am Mittwochmorgen ein Cargo-Flugzeug in Berlin erwartet.
Es bereist alle Wahlstandorte im Ausland und sammelt die abgegebenen Stimmen ein. An Bord sitzen wiederum Vertreter*innen der Parteien – diesmal aus der Türkei – und kontrollieren die ordnungsgemäße Stimmeneinsammlung. In Ankara werden die Stimmen dann bis zur Schließung der dortigen Wahlurnen in den Büros der türkischen Handelskammer aufbewahrt.
In den vergangenen Jahren hat die AKP das Rennen in Deutschland gemacht, ihr Stimmenanteil lag bei den Parlamentswahlen 2018 hierzulande bei 55,7 Prozent, in der Türkei waren es nur 42,6 Prozent. Die CHP erreichte hier 15,6 Prozent und die HDP mit 14,8 Prozent auch einen Wert über dem türkischen Durchschnitt. Die Wahlbeteiligung lag in Deutschland damals bei 49,7 Prozent. In diesem Jahr wird erwartet, dass die Wahlbeteiligung wegen des erwartbar knappen Ergebnis noch höher sein wird.
Viel Streit und viele verletzte Gefühle
Die sechs Wahlberechtigten der alevitischen Gemeinde stehen innerhalb von wenigen Minuten wieder außerhalb des Konsulatsgeländes, inklusive Schlangestehen dauerte die Abstimmung für sie nur etwa 15 Minuten. Immer wieder kommen Menschen in Kleinbussen am Konsulat an, darunter auch konservative Wähler*innen.
Die sogenannte Union Internationaler Demokraten fungiert in Deutschland als Vorfeldorganisation der AKP und hatte in den vergangenen Jahren massiv für die Abstimmungen mobilisiert und auch Wahlkampfveranstaltungen von Politikern der Partei in Deutschland organisiert. Doch diese Reden, die früher für viel Streit, verletzte Gefühle und mutmaßlich noch mehr Rückhalt für Erdoğan in Deutschland sorgten, gibt es so nicht mehr.
Drei Monate vor Abstimmungen in ihren Heimatländern, dürfen Politiker*innen aus Nicht-EU-Staaten in Deutschland keine Wahlkampfveranstaltungen mehr abhalten. Diese Note hatte das Auswärtige Amt Ende Juni 2017 an alle in Deutschland akkreditierten Botschaften versandt, die Entscheidung markierte damals den vorläufigen Tiefpunkt der türkisch-deutschen Beziehungen.
Am 18. Februar 2017 noch hatte der damalige türkische Ministerpräsident der AKP, Binali Yıldırım, vor 10.000 Anhänger*innen in Oberhausen gesprochen, um für das Verfassungsreferendum zum Präsidialsystem in der Türkei zu werben. Nur einen Tag vorher war bekannt geworden, dass der Türkei-Korrespondent der Welt und ehemalige taz-Redakteur Deniz Yücel wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in Istanbul festgenommen wurde.
Yunus Ulusoy, Sozialwissenschaftler
Die AKP sah nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 überall ausländische Mächte am Werk, die versuchten, die Türkei zu destabilisieren, und Erdoğan wurde seinerseits immer autoritärer. Tausende Menschen protestierten gegen die AKP-Veranstaltungen in den deutschen Städten, viele Kommunen wollten sich den Ärger ersparen und verhängten ordnungsrechtlich begründete Auftrittsverbote gegen die türkischen Politiker. Ankara warf Deutschland „Nazi-Methoden“ vor. Die türkisch-deutschen Beziehungen waren im Eimer und sind es wegen der damaligen Ereignisse teilweise immer noch.
Hoffnung auf zweiten Wahlgang
Dennoch nimmt Yunus Ulusoy die Stimmung bei den Abstimmungen in Deutschland heute als entspannter wahr. „Wir haben wirklich eine ganz andere Ausgangssituation als etwa 2017“, sagt der Wissenschaftler vom Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung an der Universität Duisburg-Essen. „Erdoğan hat damals eine Politik betrieben, die Außenpolitik für die Innenpolitik zu instrumentalisieren“, sagt er. „Jetzt hat die Türkei kein Interesse daran, die deutsch-türkischen Beziehungen weiter zu belasten.“ Umgekehrt habe die internationale Gemeinschaft aber auch noch das Erdbeben und die ausländischen Hilfen vor Augen und blicke deshalb anders auf die Türkei.
Auch Ulusoy rechnet in diesem Jahr mit einer hohen Wahlbeteiligung bei den Abstimmungen in Deutschland, sieht aber einen rein emotionalen Wert der Wahlen in Deutschland. „Der Effekt der Auslandstürken für den Wahlsieg von Erdoğan betrug bei den Wahlen 2018 nur 0,2 Prozentpunkte, das ist vollkommen zu vernachlässigen, wenn das Wahlergebnis nicht extrem knapp ausfällt.“
Dennoch sei seit 2014, als das erste Mal in Deutschland großflächig Urnen aufgestellt wurden, ein gewisser Wahlhabitus für die türkischen Staatsbürger entstanden. „Die Leute wissen jetzt, wie das funktioniert.“ Ulusoy teilt die Einschätzung, dass die Opposition in Deutschland in diesem Jahr gut organisiert ist. „Es gibt eine Hoffnungsstimmung, dass es Erdoğan im ersten Wahlgang nicht schaffen wird. Das führt dazu, dass die Opposition besser mobilisieren kann.“
Özgür Gündüzkanat hat in den vergangenen Wochen zusammen mit seinem Freund immer wieder versucht, AKP-Wählerinnen in Deutschland davon abzubringen, für die Partei zu stimmen. „Sie glauben, es gäbe wegen einer Inflationsrate von etwa 8 Prozent eine Wirtschaftskrise in Deutschland. In der Türkei betrug die Rate mehr als 80 Prozent!“ Viele Leute hier würden das gar nicht am eigenen Leib spüren.
Der junge Student hofft, dass Kılıçdaroğlu stark abschneidet und es zu einem zweiten Wahlgang für die Präsidentschaftswahlen kommt. Bis dahin wird Gündüzkanat auch im Verzeichnis der ausländischen Wähler*innen stehen und selber seine Stimme in Berlin abgeben können. Für den Fall, dass es zu Stichwahlen kommt, steht auch schon der Wahlzeitraum in Deutschland fest: 20. bis 24. Mai.
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