Wahlen in der Türkei: Einheit gegen Erdoğan
Die türkische Opposition steht vor den Wahlen geschlossen wie nie zusammen. So hat sie eine Chance gegen den schwächelnden Amtsinhaber Erdoğan.
Gefühlt 100.000 Stimmen auf dem Platz am Meer in Izmir stimmen am Sonntag mit ein, es scheint, als würde hier bereits der Sieg gefeiert. Rundum strahlende Gesichter, die Leute hüpfen zum Sound aus den Lautsprechern hoch und runter, die Menge ist wie elektrisiert. Am 14. Mai stimmt die Türkei über ein neues Parlament und einen neuen Präsidenten ab. Der Wahlkampf ist im vollen Gange.
Als am Ende eines langen Nachmittags dann endlich auch der Kandidat selbst, Kemal Kiliçdaroğlu, auf die Bühne tritt, ertönt noch einmal ein Aufschrei auf dem Platz. Der Präsidentschaftskandidat der Opposition, noch vor wenigen Wochen von vielen als Langweiler abgetan, wird gefeiert wie ein Popstar. Fast egal, was er sagt, ob er den Erstwählern eine glänzende Zukunft verspricht oder behauptet, man werde das von der aktuellen Regierung gestohlene Geld wieder zurückholen: Jeder Satz wird begeistert beklatscht.
Die Botschaft von Izmir ist deutlich: Der Kandidat und seine Anhänger haben keinen Zweifel, dass sie am 14. Mai die „Schicksalswahl“ der Türkei gewinnen werden. Es gibt gute Gründe, dass diese Überzeugung realistisch ist. Die Umfragen für Kiliçdaroğlu sind gut, nie waren bislang mehr Leute bei den Wahlveranstaltungen des Oppositionskandidaten, und nie war die Opposition gegen den amtierenden Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan so selbstbewusst wie in diesen Tagen. Sicher, die Metropole an der Ägäis ist seit Jahrzehnten eine Hochburg der Opposition. Doch auch in anderen Städten zeigt sich, dass immer mehr Menschen nach 22 Jahren Erdoğan an der Regierung die Nase voll haben.
Sie wollen Erdoğan überwinden
Das letzte Wochenende war noch einmal eine wichtige Demonstration der Einheit. Alle ParteiführerInnen der Sechser-Koalition, einschließlich der Frontfrau der IYI-Parti, Meral Akşener, die noch unmittelbar vor der Nominierung von Kiliçdaroğlu Zweifel an ihm geäußert hatte, gingen in Izmir auf die Bühne. Die demonstrative Einigkeit und Unterstützung für Kiliçdaroğlu ist so deutlich, dass sie von niemandem mehr in Zweifel gezogen wird.
Alle Wut, alle Verzweiflung und alle Demütigungen der letzten 20 Jahre kulminieren nun in einer einzigen Forderung: Erdoğan muss weg! Sicher, es geht um eine bessere Wirtschaftspolitik, die Rehabilitation der Justiz, um Recht, Gesetz und Demokratie, wie immer wieder skandiert wird, doch erst einmal muss die Alleinherrschaft des amtierenden Präsidenten überwunden werden.
Schon vor Wochen sagte einer der wichtigsten oppositionellen Journalisten von der Zeitung BirGün, es dürfe nur ein Ziel geben, dem sich alle unterordnen müssen: „Karthago muss fallen, Karthago muss fallen“. Damals war noch nicht klar, wer letztlich Präsidentschaftskandidat der Opposition werden würde. „Egal, wer nominiert wird, alle müssen ihn unterstützen. Eine andere Chance haben wir nicht mehr“, schrieb die Zeitung.
Daran hat die oppositionelle Sechserkoalition sich gehalten. Angefangen bei der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP von Kiliçdaroğlu, über die rechtsnationalistische IYI-Parti von Meral Akşener bis zu den beiden früheren AKP-Ministern Ahmet Davutoğlu und Ali Babacan bleiben alle bei dieser Marschroute. Es gibt keine Misstöne oder Querschläger, und das gilt selbst für den Umgang mit der kurdischen HDP, obwohl Erdoğan genau an diesem Punkt versucht, die Opposition auseinanderzutreiben.
Krönungsmesse in Izmir
Bevor Kiliçdaroğlu am letzten Sonntag seine Krönungsmesse in Izmir feierte, hatte Präsident Recep Tayyip Erdoğan unmittelbar am Tag davor auf demselben Platz seinen ersten großen Live-Auftritt nach seinem krankheitsbedingten Ausfall in der Woche zuvor. Was zu einer Art Auferstehung hätte werden sollen, geriet dann tatsächlich zu einem peinlichen Hin und Her um die Frage: Kommt er oder kommt er nicht? Obwohl der angeschlagene Präsident am Samstagvormittag schon live bei einer Waffenmesse am alten Istanbuler Flughafen aufgetreten war und deshalb alle in Izmir wussten, dass Erdoğan wieder auf den Beinen stand, ließ er seine Fans doch fast drei Stunden im Ungewissen, ob er nun kommen würde oder nicht.
Das Gerücht breitete sich aus, Erdoğan sei enttäuscht, weil zu wenig Leute auf dem Platz wären, und er wolle deshalb nicht auftreten. „Nein, das kann nicht stimmen“, machte sich ein Senior am Rande der Menge Mut. „Unser Präsident kommt gleich“. Die Stimmung, die sowieso nicht gerade enthusiastisch war, ging immer weiter in den Keller.
Als Erdoğan dann endlich doch noch auf der Bühne erschien, war er im Vergleich zu früheren Wahlkampagnen kaum wiederzuerkennen. Statt Aufbruchstimmung hatte er nur eine Botschaft: Kiliçdaroğlu sei der Kandidat der „PKK-Terroristen“, weil die kurdische HDP neben vielen anderen auch zur Wahl des Oppositionsführers aufgerufen hatte. Doch selbst bei dem eigenen Anhang kann er mit diesem ständig wiederholten Anwurf kaum noch Empörung auslösen. Deshalb verlegt sich der Präsident mehr und mehr auf Drohungen.
Einer Regierung von „Kandils Gnaden“, dem Hauptquartier der PKK im Nordirak, „werden wir nicht dieses Land überlassen“, sagte er einen Tag nach seinem enttäuschenden Auftritt in Izmir. Schon zuvor hatte sein Innenminister orakelt, ein Sieg der Opposition wäre „ein Putsch des Westens“. Je schlechter die Umfragen für Erdoğan aussehen, umso mehr nehmen die Drohungen zu. „Wird der Präsident eine Niederlage überhaupt anerkennen?“, fragen sich deshalb immer mehr Menschen in der Türkei.
In den sozialen Medien wird davor gewarnt, sich von diesen Drohungen irritieren zu lassen. „Geht wählen, nehmt eure Nachbarn mit, erteilt der Alleinherrschaft eines Mannes eine klare Absage“, ist auch die Antwort von Kemal Kiliçdaroğlu. „Je deutlicher die Niederlage der Regierung ist, umso schwieriger wird es ihnen fallen, durch Manipulation und Tricksereien unseren Sieg infrage zu stellen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Geschasste UN-Sonderberaterin
Sie weigerte sich, Israel „Genozid“ vorzuwerfen
Prognose zu Zielen für Verkehrswende
2030 werden vier Millionen E-Autos fehlen
Fake News liegen im Trend
Lügen mutiert zur Machtstrategie Nummer eins
Mord an UnitedHealthcare-CEO in New York
Mörder-Model Mangione
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Vertrauensfrage von Scholz
Der AfD ist nicht zu trauen