Türkische Serie „Ein guter Mensch“: Selbstjustiz im Katzenkostüm
Ein Mann im Ruhestand erhält die Diagnose Alzheimer. Bevor er vergisst, geht er auf Rachefeldzug gegen Verbrecher und die Gesellschaft.
Wann gilt ein Mensch als ein guter Mensch? Agâh Beyoğlu, verwitwet und im Ruhestand, wäre gerne so ein guter Mensch. Nachdem er jedoch seinen geliebten Kater versehentlich umbringt und tot unter dem Sofa seiner alten Istanbuler Wohnung entdeckt, verzeiht er sich diesen Fehler nur schwer. Der 65-jährige Rentner hat vergessen, das Tier zu füttern und bekommt anschließend die ursächliche Diagnose: Alzheimer im Frühstadium.
Dass sich mit seiner fortschreitenden Krankheit auch sämtliche Erinnerungen und das Wissen über ungesühnte Verbrechen in Luft auflösen, will er nicht wahrhaben und stürzt ihn in eine Depression. Getrieben vom Gerechtigkeitssinn und der ärztlichen Aufforderung, sich aufgeschobenen Plänen zu widmen, beginnt der ehemalige Justizbeamte seinen minutiös geplanten Rachefeldzug gegen Täter und Mitwisser*innen.
Widersacherin Nevra Elmas, gespielt von Cansu Dere, jagt derweil den in den Medien als angeblich ersten Serienmörder der Türkei geltenden Rentner im Katzenkostüm. Als erste Frau in der Mordkommission gehen ihr unterdessen der tägliche Sexismus und die Misogynie ihrer männlichen Polizeikollegen an die Substanz.
Nicht nur wird jedes Mordopfer auch mit einer persönlichen Botschaft an Nevra gefunden. Als die Blutspur und Suche nach dem Täter sie immer wieder in ihren Heimatort führen, droht sie in an dem Fall zu zerbrechen.
Gesellschaftliche Amnesie
Drehbuchautor Hakan Günday gilt durch sein literarisches Schaffen als Vertreter einer über die Entwicklung der Türkei erzürnten Generation. Oft widmet er sich den menschlichen Abgründen seiner Figuren und macht auch in diesem Fall keine Ausnahme.
Der wie für die Rolle von Agâh Beyoğlu geschaffene Haluk Bilginer gilt als einer der profiliertesten Schauspieler des Landes. Vertreten in zahlreichen internationalen Produktionen dürfte Bilginer spätestens seit „Winterschlaf“ (2014) einem breiteren Publikum ein Begriff sein. Als er 2019 den Emmy für seine Rolle als Agâh entgegennahm, mahnte er passenderweise, die eigene Gesellschaft doch keiner Amnesie zu überlassen.
Ähnlich subtile Kritik am Zustand der Türkei äußert auch die Serie immer wieder. Dass sich ein zwischen Anstand und Wahnsinn schwankender Rentner der Gerechtigkeit annehmen will, versinnbildlicht einen Akt der Verzweiflung. Nostalgisch sinnierend über eine vergangene Türkei, die es in dieser Form nicht mehr gibt, wird er im kommerzialisierten Istanbul zum Fremden in der eigenen Stadt.
Agâh, der sich mit einem Wurf aus dem Fenster seines Fernsehers entledigt, hält nichts mehr von den Medien und bekommt zunächst wenig mit vom Rummel um sein Alter Ego. Währenddessen macht sein halbstarker Enkel den Mörder zum Social-Media-Phänomen und bleibt doch unwissend über das Doppelleben seines Großvaters.
Mafiosi, Machos und Mittäter
In zwölf Episoden schneidet das Krimidrama von Onur Saylak viele gesellschaftspolitische Themen an. Denn Agâhs Rachefeldzug gilt nicht nur den für sexualisierte Gewalt und Missbrauch verantwortlichen Mafiosi, Machos und Mittätern, die brutal zur Stecke gebracht werden. Sie gelten auch einer Gesellschaft und Kultur des Schweigens, die Gewalt, Missbrauch und Femizid zu häufig duldet. Gewissensbisse plagen ihn beim Entschluss, Unrecht durch Selbstjustiz zu begleichen, dank seiner Demenz nicht mehr.
„Ein guter Mensch“, seit 8.10. bei Magenta TV und auf DVD
Zahlreiche durchwachsene türkische Serien sind längst zum Exportschlager mutiert. Zwei Jahre nach Erscheinen ist „Ein guter Mensch“ auch in Deutschland verfügbar. Wer nach dem aktuell gelobten Netflix-Serienhit „Bir Başkadır“ mehr als schlichtes Entertainment will, der/dem sei die Serie empfohlen. Schnell vergessen werden Zuschauer*innen sie nicht.
Was einen guten Menschen aber letztendlich ausmacht, beantwortet die Serie hingegen nicht.
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