Türkische Putschistenführer vor Gericht: Ein historischer Prozess
Die Putschistenführer von 1980, Kenan Evren und Tahsin Sahinkaya, müssen sich vor Gericht verantworten. Möglich ist dies nur, weil die Macht des Militärs zuvor gebrochen wurde.
ISTANBUL taz | Es ist ein historischer Prozess. Ab Mittwoch stehen in Ankara der ehemalige Staatspräsident und Putschistenführer Kenan Evren und der damalige Chef der Luftwaffe, Tahsin Sahinkaya, vor Gericht. Als letzte lebende Mitglieder der Junta werden sie angeklagt, 1980 gegen die Regierung geputscht und das Parlament aufgelöst zu haben.
Der Putsch vom 12. September 1980 war der massivste Eingriff des türkischen Militärs seit Gründung der Republik 1924. Er hat die demokratische Entwicklung des Landes um mindestens ein Jahrzehnt zurückgeworfen. Die Putschisten ließen 50 Menschen hinrichten, in den Gefängnissen starben über 400 Gefangene an Folter und Misshandlung.
Es hat juristische und politische Gründe, dass der heute 94 Jahre alte Putschistenführer Kenan Evren und der 86 Jahre alte Luftwaffenchef Sahinkaya sich erst jetzt vor einem Gericht verantworten müssen.
Rein formal konnten die Putschisten erst angeklagt werden, nachdem im Herbst 2010 im Rahmen einer größeren Verfassungsänderung auch die zuvor im Gesetz verankerte Immunität für die damaligen Militärchefs aufgehoben worden war.
Tatsächlich kam der Prozess erst jetzt zustande, weil in den letzten fünf Jahren die Macht des Militärs als Institution in der Türkei so weit gebrochen wurde.
Verhandlungsfähigkeit nicht gesichert
Neben der historischen Aufarbeitung des Putsches von 1980 werden etliche weitere hohe Militärs in einem Prozess in Istanbul angeklagt, weil sie 2003/2004 Putschpläne gegen die Regierung von Tayyip Erdogan geschmiedet haben sollen.
Ob Kenan Evren in Ankara persönlich vor den Richtern erscheinen wird, steht noch nicht fest. Ein medizinisches Gutachten über die Verhandlungsfähigkeit des 94-Jährigen ist noch nicht fertig.
Doch das ist letztlich genauso zweitrangig wie die Frage, ob Evren tatsächlich noch ins Gefängnis müsste. Was zählt, sind die moralische Delegitimierung der Putschisten und die Rehabilitierung der Opfer.
Die Nebenkläger
Insgesamt acht NGOs und Parteien, darunter die linke Devrimci Yol (Revolutionärer Weg), die linke Gewerkschaft DISK, die sozialdemokratisch-kemalistische CHP, aber auch die rechte BBP und 350 Individuen treten als Nebenkläger auf.
Das Parlament prüft, ob es sich als Institution dazugesellen soll. Für die im Anschluss an den Putsch massiv unterdrückten Kurden hat sich die Rechtsanwaltskammer aus Diyarbakir als Nebenklägerin gemeldet.
Von den türkischen Menschenrechtsorganisationen wird vor allem kritisiert, dass die Putschisten nur wegen Vergehen gegen die Verfassungsorgane und nicht auch wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ angeklagt werden.
Schließlich haben sich die Putschisten in den drei Jahren, bis Mitte 1983 wieder eine zivile Regierung gewählt wurde, auch massiver Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht.
Die Opfer nicht vergessen
Rund 600.000 Menschen wurden vorübergehend verhaftet, fast 300.000 Menschen in eigens errichteten Militärgefängnissen unter übelsten Bedingungen eingesperrt, tausende kritische Intellektuelle von den Universitäten vertrieben, rund 30.000 Verfolgte flohen ins Ausland.
Öztürk Türkdogan, Vorsitzender des Menschenrechtsvereins IHD, sagte, man dürfe über dem Verfassungsbruch die vielen individuellen Opfer der Militärs nicht vergessen.
Kenan Evren, der die damalige chaotische Situation als Rechtfertigung für den Putsch ansieht, sagte kürzlich, in einer vergleichbaren Situation würde er heute wieder putschen.
Er hatte sich nach dem Putsch 1982 zum Präsidenten wählen lassen und bis 1989 amtiert. Die von den Militärs durchgesetzte Verfassung ist in Grundzügen bis heute in Kraft.
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