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Türkische OppositionGefragter Autokrat Erdogan

Jürgen Gottschlich
Kommentar von Jürgen Gottschlich

Die Solidarisierung mit der türkischen Opposition wirkt routiniert und formelhaft. Dabei kommt es jetzt darauf an, sie wirklich zu unterstützen.

Erdogan wird wieder hofiert, wie hier auf dem Nato-Gipfel in Den Haag, egal wie brutal er die Opposition im eigenen Land unterdrückt Foto: Kay Nietfeld/dpa

D er Vorsitzende der bedrängten türkischen Oppositionspartei CHP, Özgür Özel, tourte in den vergangenen Wochen durch Europa und suchte Unterstützung: zuerst bei der Tagung der sozialistischen Internationale in Sofia, wo er sich mit Spaniens Ministerpräsident Pedro Sánchez traf, zuletzt am Wochenende auf dem Parteitag der SPD, wo er als Gast mit einer eindringlichen Rede zu Verteidigung der Demokratie in der Türkei auftrat. Man klopfte ihm zwar überall auf die Schulter und der SPD-Parteitag solidarisierte sich dann auch einstimmig mit dem verhafteten Istanbuler Bürgermeister Ekrem İmamoğlu, aber das war es dann auch.

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan steckt seine Kritiker in den Knast, na ja, das kennt man schon. Und dass der Autokrat am Bosporus es mit der Demokratie wohl nicht so genau nimmt, ist auch nicht neu. Die Verhaftung von İmamoğlu im März sorgte zwar zunächst für einiges Aufsehen in Europa, doch das war auch bald wieder vorbei. Die Parteifreunde von der SPD steckten gerade mitten in den Koalitionsverhandlungen, und die EU hatte mit Trump und Putin genug zu tun und konnte sich nicht auch noch um Erdoğan kümmern.

So ist es bis heute geblieben; Erdoğan setzt seine Zerschlagung der Opposition mittels einer willfährigen Justiz ungestört fort. Es gibt keine Sanktionsdrohungen aus Brüssel. Erdoğan ist trotz seiner autokratischen, undemokratischen Politik gefragt wie lange nicht. Er hält die Migranten von Europas Grenzen fern, er könnte zwischen Russland und der Ukraine Friedensverhandlungen moderieren, und er befehligt die größte Nato-Armee diesseits des Nordatlantiks.

Der Mann wird gebraucht, wie der neue Kanzler Merz längst erkannt hat, schließlich sorgt er für Stabilität an der Südostgrenze der Nato. Doch die von Erdoğan garantierte Stabilität steht auf tönernen Füßen. Er hat die Unterstützung der Mehrheit im Land verloren. Wenn man sich schon nicht für die Demokratie einsetzen will, sollte man gerade im Interesse langfristiger Stabilität die Alternativen zu Erdoğan nicht vorzeitig fallen lassen.

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Jürgen Gottschlich
Auslandskorrespondent Türkei
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4 Kommentare

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  • Ach, ich dachte, es sollte heißen: wenn man sich schon nicht für die Demokratie einsetzen will, sollte man gerade im Interesse langfristiger Stabilität Erdogan nicht vorzeitig fallen lassen. Das nämlich trifft die Realität leider weitaus besser.



    Merz orientiert sich ohnehin daran, sind Union und AKP ideologisch doch irgendwie Schwesterparteien - die einen halt christlich-konservativ, die anderen islamisch-konservativ -, wie SPD und CHP auch (rechts)sozialdemokratische Schwesterparteien sind.



    Auch im Hinblick auf die wahlberechtigten Deutsch-Türken fällt das CDU-Geblinke in Richtung der Erdogan-Anhänger hierzulande mittlerweile auf … kein Interesse an politischen Veränderungen in der Türkei, sagt das auch aus. Sie wird noch als Stabilitätsanker der NATO und als Bollwerk gegen Flüchtlingsbewegungen in der Nahostregion gebraucht.

  • Die Frage ist natürlich, wie die angesprochenen Punkte (Migration, Russland, Nato) gelöst werden sollen, wenn man Hr. Erdogan einmal so richtig vor den Kopf stößt. Wie die EU aus leidvoller Erfahrung weiß, reagiert der türk. Präsident relativ sehr dünnhäutig. Und da sollte man in Betrachtung der gesamten aktuellen Weltlage im allgemeinen und der Rolle der Türkei darin im besonderen schon so etwas wie einen Plan B haben, bevor man die lange Liste der internat. Baustellen um eine weitere verlängert.



    Im Fall der Türkei würde das wie immer enden: in einem Monate währenden Entschuldigungsparcours, auf dem Hr. Erdogan der EU weitere Zugeständnisse abpresst.



    Sollte es in absehbarer Zeit tatsächlich zu einem Regimewechsel kommen, weiß man jetzt noch nicht, wer dann übernimmt. Ein Weg findet sich immer.

  • Zum Foto - gleich und gleich gesellt sich gern



    Und:



    taz.de/Prozess-geg...bb_message_5041253

  • Vielleicht liegt die fehlende Unterstützung für die Opposition aus dem Ausland auch daran, dass man ihr einfach nichts zutraut?



    Ich vermisse außerdem berechtigte kritische Stimmen gegen die CHP, die aktuell mehr mit inneren Konflikten beschäftigt ist.