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Türkische Militäroffensive in NordsyrienFlucht aus der „Sicherheitszone“

100.000 Menschen befinden sich wegen der Militäroffensive auf der Flucht. Viele schon das zweite Mal in wenigen Jahren.

Laut UN sind seit Beginn der Militäroffensive 100.000 Menschen auf der Flucht Foto: reuters

Hassake afp | Erst vor zwei Jahren mussten Dschihan und ihre Familie wegen des türkischen Angriffs auf Afrin die Flucht ergreifen. Nun wurden sie durch die türkische Offensive in Nordsyrien zum zweiten Mal gezwungen, ihre wenigen Habseligkeiten zu packen. „Wir haben Afrin verlassen, als der Feind die Region besetzt hat, und uns in Kobane niedergelassen, da es dort ruhig und sicher war“, sagt die 47-jährige Mutter mehrerer Kinder. „Doch der Feind will nicht, dass wir die Sicherheit genießen.“

Mit ihrer Familie hat Dschihan nun vorläufig Zuflucht auf einem Schulhof in Hassake gefunden. „Wir wissen nicht wohin. Was will Erdogan von uns? Alles nur, weil wir Kurden sind?“, fragt sie zwischen Müdigkeit und Wut, während um sie herum Mütter ihren Kindern von den mageren Hilfspaketen zu Essen geben. Wie die meisten Vertriebenen aus Afrin ist sie seit ihrer Flucht nicht wieder in ihre Heimatregion zurückgekehrt.

In den verlassenen Häusern haben sich seit der Einnahme der Region im März 2018 viele arabische Kämpfer niedergelassen, die die türkische Armee gegen die kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) unterstützt hatten. Durch die Ansiedlung dieser Milizionäre mit ihren Familien sowie weiterer arabischer Sunniten hat sich die Bevölkerungsstruktur in der zuvor stark kurdisch geprägten Region verschoben.

Viele der arabischen Milizionäre beteiligen sich nun erneut an der türkischen Offensive in Nordsyrien. Erklärtes Ziel von Präsident Recep Tayyip Erdogan ist es, entlang der türkischen Grenze eine 30 Kilometer breite „Sicherheitszone“ zu schaffen. Dort will Erdogan eine Million syrische Flüchtlinge aus der Türkei ansiedeln. Da die meisten dieser Flüchtlinge Araber sind, könnten die Kurden in der Grenzregion zur Minderheit werden.

Der Krieg zerstört unsere Häuser, tötet unsere Söhne

Fachreddin, auf der Flucht:

Wegen der Kämpfe haben bereits zehntausende Einwohner der syrischen Grenzstädte Ras al-Ain, Tal Abjad und Kobane die Flucht ergriffen. Die meisten würden in Tall Tamr, Hassake und umliegenden Dörfern Zuflucht suchen, sagt Madschida Amin, die in der kurdischen Autonomieverwaltung für Flüchtlinge zuständig ist. In Hassake seien drei Schulen zu Flüchtlingslagern umgewandelt worden. Die Zahl der Neuankömmlinge steige stündlich.

Manche der Flüchtlinge sind zu Fuß mit ihrem Gepäck aufgebrochen, um den Luftangriffen zu entkommen. „Alle haben Angst, unsere Kinder fürchten sich vor den Flugzeugen“, sagt der 28-jährige Ibrahim Fares, der mit seiner Frau und ihren zwei Kindern aus der Grenzstadt Ras al-Ain geflohen ist. 100.000 Menschen sind nach UN-Angaben schon durch die Kämpfe vertrieben worden, doch könnte die Zahl laut Hilfsorganisationen 300.000 erreichen.

In Tall Tamr haben sich etliche Familien in Parks und unter Bäumen niedergelassen. Unter ihnen ist auch der 55-jährige Fachreddin und seine Familie, die aus Ras al-Ain geflohen sind. Er fürchtet, dass sich die Kämpfe „auf alle Städte ausdehnen“ in der Region. „Der Krieg zerstört unsere Häuser, tötet unsere Söhne“, sagt er. „Wir wissen nicht, was unser Schicksal sein wird. Denn wir haben jedes Vertrauen in die Welt verloren.“

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2 Kommentare

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  • Wenn der faschistische Führer in volkswirtschaftliche Nöte gerät, dann spricht er di Faschisten im Volk am leichtesten durch ein 'Über-' und ein 'Ur-' an. Kurz gesagt macht es Erdogan ähnlich Hitler. Er erinnert an das große osmanische Reich, streckt seine stinkigen Finger in Richtung Aleppo aus und wird wie der Gröfaz an solcher Idee scheitern.

    Ähnlich begann WW2. WW3 wird mit anderen Partnern beginnen. Darunter die Kriegstreiber aus Israel, dem Iran und Saudi-Arabien. Nachfolgend die 'westliche Welt'.

  • Die Türkei wird mit ihrer Sicherheitszone scheitern, nicht unbedingt, weil die YPG tapfer gegen sie kämpft, sondern weil die syrischre Regierung, Russland, Iran, die EU und die USA diese Sicherheitszone gar nicht haben wollen. Die Türkei verfügt nicht mehr über große militärische und politische Macht in Syrien. Dass Erdogan jetzt dieses Projekt versucht, ist für die armen, islamisch-orientierten Wähler in der Türkei gedacht, denen Erdogan die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt angeblich beseitigen will. Tatsächlich wird die Türkei an jeder Stelle ein Problem vorfinden: Die Syrer wollen nicht in diese Sicherheitszone ziehen, die von der Regierung in Damaskus nicht anerkannt wird und die die Leute dort wollen auch keinen Zuzug. Und die arabischen Söldner, die mit der Türkei zusammen arbeiten, sind bisher militärisch nicht wirksam geworden, wie sollen sie das jetzt schaffen? Wenn die Regierung in Damaskus mit Hilfe der YPG und Hizbullah diese Sicherheitszone untergräbt, wird sie vermutlich Stück für Stück zusammenbrechen. Tragisch ist nur, dass bis dahin viele Menschen, die dort leben, den Preis für dieses Projekt bezahlen müssen. Dass die NATO der Türkei hierbei eine massive Unterstützung zukommen lässt, halte ich für ausgeschlossen.