Türkische Filmemacherin: Geister in Camouflage

Regisseurin Azra Deniz Okyay erzählt in ihrem Debütfilm „Ghosts“ von Lebensrealitäten in Istanbul. Darunter auch ihre eigene.

Filmemacherin Deniz Okyay sitzt in einem grünen Hinterhof auf einem Gartenstuhl

Regisseurin Deniz Azra Okyay in ihrem Garten auf einer der Prinzeninseln Foto: Pola Kapuste

Iffet braucht Geld, weil ihr Sohn im Gefängnis sitzt und von anderen Insassen bedroht wird. Ihr Job bei der Straßenreinigung reicht nicht. Didem braucht einen Job, weil sie ihren als Zimmermädchen gerade verloren hat.

Am Ende fahren sie, getarnt als gläubige Muslima, Drogen in anderen Stadtteilen Istanbuls aus. Und das im Auto des Mannes, der nachts baufällige Häuser einstürzen lässt, sodass die „Neue Türkei“ gebaut werden kann. Die Verstrickungen der Geschichten entstehen im Dunkeln, metaphorisch, aber auch faktisch, denn in der ganzen Stadt ist der Strom ausgefallen.

Azra Deniz Okyay nimmt uns in ihrem Debütfilm „Ghosts“ mit in den Alltag ihrer Heimatstadt Istanbul. „In einem Land wie der Türkei lebt man wie in dickem Nebel. Man versucht ständig rauszufinden, was unter ihm liegt“, erklärt sie in ihrem Garten auf einer der Prinzeninseln vor Istanbul. Die Pinien duften, die Katzen schnurren, sonst ist hier niemand weit und breit auf dem Hügel, von dem aus man die glitzernden Gebäude der Stadt auf der anderen Seite des Bosporus sehen kann.

Eine junge, schöne Frau, langes schwarzes Haar, leichtes Make-Up, große Zahnlücke und ein kühler Stolz, der ihr gut steht. Die Situation bildet eine große Diskrepanz zu dem Istanbul, über das wir uns unterhalten.

Die vertauschte Reihenfolge von Szenen, die erst später in den Kontext der Handlung gesetzt werden; Taschenlampen als einzige Lichtquelle und Sequenzen, die hochkant mit dem Handy gefilmt wurden, vermitteln das Improvisatorische des von Okyay porträtierten Lebens. „In Europa geht man durch eine Tür, um ins nächste Zimmer zu kommen, in der Türkei müssen wir oft durchs Fenster krabbeln, um dahin zu gelangen, wo wir hinwollen“, sagt sie.

Preisgekrönt im Ausland, ungefördert im Inland

Okyays Fenster hat sie weit gebracht: Ihr Film hat in Venedig den Critics Weeks Price gewonnen, auf dem Antalya Golden Orange Filmfestival in fünf Kategorien, unter anderem bester Film und beste Regie. Weitere Preise kommen aus Thessaloniki und Warschau. Dieser Tage hat „Ghosts“ (im Original „Hayaletler“) in Deutschland auf den Münchner Festspielen Premiere.

Okyay hat in Paris an der Sorbonne Film studiert, davor fotografiert und ab dem vierzehnten Lebensjahr einem Fotografen assistiert. Hinter der Kamera lag ihre Welt. Sie wuchs auf als Einzelkind eines Architektenpaares, sie reiste viel. Ab Schulbeginn lernte sie vormittags mit Diplomatenkindern auf einer französischen Schule und nachmittags mit den Kindern der Romnija ihres Viertels.

Okyay wurde ihre Arbeit nicht leicht gemacht: 2016 unterstützte sie eine Petition der „Filmmakers for Peace“, die sich den „Academics for Peace“ angeschlossen und sich für eine friedliche Lösung des kurdisch-türkischen Konflikts eingesetzt haben. Einen Tag nachdem sie unterschrieben hatte, wurden die Namen der Unterstützer der Petition auf der ersten Seite der konservativen Zeitung Yeni Şafak veröffentlicht, dazu der Kommentar, dass es sich um Terrorismusunterstützer handele.

Okyay erzählt, dass sie daraufhin Todesdrohungen auf Twitter erhalten habe und dass von den Un­ter­zeich­ne­r*in­nen nur noch einem, sehr berühmten Regisseur staatliche Filmförderung bewilligt worden sei. Wenn man bedenkt, dass die Unterschriften unter der Petition „Academics for Peace“ zu Festnahmen und Entlassungen an Universitäten führte, ist es naheliegend anzunehmen, dass auch die verwehrte Filmförderung mit der Unterschrift zusammenhängt. Ohne Unterstützung der eigenen Regierung sei es auch schwer, europäische Förderungen zu bekommen, erklärt Okyay. Die Tür für ihren Film blieb erst mal verschlossen.

Frauenproteste und Tanzen im Hof

Auch ihre Charaktere müssen immer wieder Umwege gehen. Iffets Sohn ist im Gefängnis, ohne eine Straftat begangen zu haben; Didem wird von Nachbarn und dann der Polizei verboten, sich im Hof auf einen Tanzwettbewerb vorzubereiten; die Aktivistin Ela lebt auch nicht ungefährlich, wenn sie für Gerechtigkeit für Nevin Yıldırım, eine Frau, die ihren Vergewaltiger getötet hat, protestiert oder auf illegalen Konzerten von queeren Bands feiert.

Okyays Leben vermischt sich mit dem ihrer Protagonist*innen. Die Szene, in der Ela für die Freilassung von Yıldırım protestiert, habe sie genauso erlebt. Auch mit den Männern, die den Protest filmen, um die Teil­neh­me­r*in­nen bei der Polizei als Ter­ro­ris­t*in­nen zu denunzieren.

läuft am 5. & 6. Juli auf dem Filmfest München

Die türkische Frauenrechtsbewegung ist trotz Einschränkungen weiterhin stark. Nicht ohne Grund: Letztes Jahr wurden offiziell 300 Femizide begangen, die Dunkelziffer ist hoch und die Zahlen steigen jedes Jahr. Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist aus der Istanbul-Konvention, einem Abkommen, das Staaten zum Schutz von Frauen gegen Gewalt verpflichtet, ausgetreten.

Letzten Samstag wurde die Pride-Parade in Istanbul wenige Stunden vor der Veranstaltung verboten und dann gewaltsam aufgelöst. Ähnlich liefen auch die Proteste zum Weltfrauentag am 8. März der letzten Jahre ab. Den Umgang mit dem weiblichen Körper stellt Okyay durch den Tanz dar. Der Körper einer Frau sei öffentlich und privat zugleich. „Im Film dürfen die Mädchen nicht auf der Straße tanzen, sie werden als Huren bezeichnet.“ In der Türkei als Frau auf die Straße zu gehen, sei genauso. Jeder habe das Recht, über deinen Körper zu reden.

Antiterroreinheit stürmt den Dreh

Okyay wohnt seit drei Monaten auf einer der Prinzeninseln, weil ihr die Bauarbeiten neben ihrer Wohnung nahe dem Istanbuler Taksim-Platz die Nerven raubten. Wieder eine Parallele: In „Ghosts“ arbeitet der Antagonist Raşit für eine Firma, für die er nachts illegal Gebäude zum Einsturz bringt, damit neu gebaut werden kann. Im echten Leben wird auch eine brandneue Türkei Erdoğans gebaut, nicht nur mit Megaprojekten wie Istanbuls neuem Flughafen oder dem geplanten Kanal, der das Schwarze mit dem Marmarameer verbinden soll.

Hier auf der Insel hat Okyay erst mal ein wenig Ruhe gefunden. Hier kreischen nur die Möwen, während der Dreharbeiten wurden noch Maschinengewehre auf sie und ihr Team gerichtet. Denn eine der letzten Szenen, die sie im für Unruhen bekannten Stadtteil Gülensu drehten, wurde für einen Terroranschlag gehalten. Obwohl sie die Genehmigung bereits hatte, habe Okyay einen Tag vor dem Dreh der Szene noch mal bei der Polizei angerufen, um sie zu informieren, dass es brennende Mülltonnen geben werde.

Am Tag darauf sei trotzdem die Polizei samt Antiterroreinheit vor ihr gestanden und habe nicht glauben wollen, dass sie die Regisseurin sei. „Sie sahen mich an, als hätte ich gesagt, ich wäre Astronaut.“ Sie habe dann nur 20 Minuten statt der versprochenen drei Stunden bekommen, um die Szene zu filmen. So ähnlich wären die gesamten Dreharbeiten für „Ghosts“ verlaufen.

„Kein Mann hätte tun können, was ich getan habe“, sagt Okyay. Männer seien es nicht gewohnt, ständig zu improvisieren. Als Frau müsse man immer darauf vorbereitet sein, Dinge so zu regeln, dass niemand sie mitbekommt. Eine junge Frau zu sein könne aber auch als Tarnkleidung fungieren. Denn man werde durchgehend unterschätzt.

Ihr würde höchstens ein Liebesfilm zugetraut, was es leichter macht, Genehmigungen für den aktuell wohl politischsten Film in der Türkei zu bekommen. Meist ist das Frau­sein aber kein Deckmantel; es setzt eine viel mehr auf den Präsentierteller. Von der männlich dominierten Filmbranche erwartet Okyay eifersüchtigen Gegenwind. „Sie wollen Frauen im Film leiden und weinen sehen. In ‚Ghosts‘ geschieht genau das Gegenteil; sie werden es hassen.“

Sehnsucht nach der Post-Feminismus-Ära

Sexismus war nie nicht Teil ihrer Arbeit. Wenn sie frühere Arbeitgeber fragte, warum sie in letzter Zeit keine Aufträge mehr bekam, habe die Werbefirma geantwortet, der Kunde wolle keine weibliche Regisseurin. Sie habe die Zusammenarbeit dann sofort beendet. „Ich meinte dann: Tauscht mal das Wort ‚weiblich‘ mit dem Wort ‚schwarzer‘ oder ‚schwuler‘ Mann aus!“ Was sie damit meint: Das würde niemand sagen, weil es als klar diskriminierend gelte. Wenn man aber sagt: Wir wollen keine Frau als Regisseurin, werde das nicht als Diskriminierung wahrgenommen. Sexismus, der so normal ist, dass man ihn nicht sieht.

In der Schlussszene von „Ghosts“, als sich alle komplizierten Wege der vier Prot­ago­nis­t*in­nen mehrmals überschnitten, verwoben und wieder getrennt haben, hören wir die Stimme eines Radiosprechers, die erklärt, wie der Stromausfall, die einstürzenden Häuser und die Drogendeals auf dieselbe Person zurückzuführen seien – einen Terroristen.

Für Okyay ist das ein Phänomen der „Post-Truth-Ära“, wie sie es nennt. Eine Zeit, in der einfache Lösungen komplizierte Zusammenhänge erklären sollen. Dabei würde sie viel lieber in der Post-Feminismus-Ära leben, in der wir alle nur noch Personen sind, egal welchen Geschlechts.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.