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Türkei und AserbaidschanEinfallstor Nachitschewan

Die Waffenruhe zwischen Armenien und Aserbaidschan verschafft der Türkei ein Entree in der Region. Die Armenier fürchten den Panturkismus.

Feiern zum Waffenstillstand vergangene Woche in Ganja, Aserbaidschan Foto: Gavriil Grigorov/imago

Berlin taz | In der aserbaidschanischen Hauptstadt Baku wird nicht nur ein militärischer Sieg über Armenien im Konflikt um Bergkarabach gefeiert. Bejubelt wird auch ein diplomatischer Erfolg, durch den eine Verbindung zwischen den „verbrüderten Staaten“ Aserbaidschan und Türkei hergestellt wird.

Laut der Vereinbarung am 10. November, deren Umsetzung russische Friedenstruppen absichern sollen, verliert Armenien die Kontrolle über alle sieben Regionen, die Bergkarabach umgeben. Davon ausgenommen ist der „Laschinkorridor“ auf einer Breite von fünf Kilometern, der Armenien mit Bergkarabach verbindet. Auch die Stadt Schuschi (aserbaidschanisch: Schuscha) und einige weitere Landstriche in Bergkarabach fallen an Aserbaidschan. Der Status von Bergkarabach wird nicht definiert.

Zudem muss Armenien eine Landverbindung zwischen den westlichen Regionen Aserbaidschans und der aserbaidschanisch besiedelten autonomen Region Nachitschewan sicherstellen, zu der Aserbaidschan bisher keinen direkten Zugang hat.

„Mit dem Abkommen wird die Blockade von Nachitschewan und Aserbaidschan beendet. Aserbaidschan wird über die Eisenbahnlinie Baku–Nachitschewan–Igdir–Kars–Istanbul Zugang zur Türkei und Europa erhalten. Zweitens wird die Überlandkommunikation der Türkei mit der türkischen Welt, die Anfang der 1920er Jahre beendet wurde, wiederhergestellt“, sagt der aserbaidschanische Historiker und Abgeordnete im aserbaidschanischen Parlament Musa Gasimli.

Gespenst Panturkismus

Doch dahinter lauert für viele armenische Experten das Gespenst des türkischen Panturkismus: Die Türkei werde jetzt einen direkten Zugang zu seinem Verbündeten Aserbaidschan bekommen, genauso wie zum Kaspischen Meer.

Genau vor 100 Jahren hatte Mustafa Kemal Atatürk darauf bestanden, dass die Sowjetunion die Region Nachitschewan nicht Armenien, sondern Aserbaidschan zuordnete. So wurde am 18. März 1921 in Moskau zwischen russischen Bolschewiken und türkischen Kemalisten ein Abkommen unterzeichnet, durch das die Region Nachitschewan der Sowjetrepublik Aserbaidschan angegliedert wurde. 1924 erhielt Nachitschewan den Status einer Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik, Bergkarabach blieb ein autonomes Gebiet innerhalb Aserbaidschans.

Nachitschewan grenzte damals nur an Armenien und den Iran. Weder Aserbaidschan noch die Türkei hatten einen direkten Zugang.

Mustafa Kemal Atatürk stellte jedoch durch einen Gebietsaustausch mit Iran eine Verbindung zu Nachitschewan her. Am 23. Januar 1932 wurde in Teheran das iranisch-türkische Abkommen über die Änderung der Grenzen zwischen beiden Ländern unterzeichnet. Aufgrund dieses Abkommens hatte die Türkei fortan eine 17 Kilometer lange Grenze zu Nachitschewan.

Rechte Hand Əliyevs

Die autonome Region, die wirtschaftlich von der Türkei abhängig ist, ist ausschließlich von Aserbaidschanern bewohnt. Sie hat offiziellen Angaben zufolge heute etwa 449.000 Einwohner, in Wahrheit dürften es weniger sein. Aserbaidschans Präsident İlham Əliyev, der seit 2003 an der Macht ist, stammt aus Nachitschewan – genauso wie sein Vater Heydər (Präsident von 1993 bis 2003) und dessen Vorgänger Äbülfäz Elçibäy.

Parlamentssprecher und damit Oberhaupt der Exklave ist Vasif Talıbov. Der 60-Jährige gehörte zu dem politischen Team von Heydər Əliyev und war dessen rechte Hand. Als Əliyev 1993 zum Präsidenten Aserbaidschans gewählt wurde, übernahm Talıbov in Nachitschewan die Führung.

Bereits seit Ende Juli 2020 fanden türkisch-aserbaidschanische Militärübungen an der Grenze zu Armenien statt. Während des sechswöchigen Kriegs zwischen Armenien und Aserbaidschan positionierte sich der türkische Staatschef Recep Tayyip Erdoğan an der Seite von İlham Əliyev.

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5 Kommentare

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  • Vielen Dank Herr Petrosyan für Ihre informative Artikel dieses vermeidbaren Krieges, Aber gegenseitiger Hass ist leider keine Grundlage für einen Dialog zu einer friedlichen Lösung. Der Korrespondent der SZ schreibt in einem Kommentar Folgendes: www.sueddeutsche.d...-moderne-1.5119645

    Viele Grüsse



    Thomas

  • ich glaube ja, dass mit dem "Einfallstor" ist ein bisschen aufgeblasen. Hat es die Eisenbahnverbindung nicht auch zu Sowjetzeiten gegeben bis zum Krieg Anfang der Neunziger? Dass ein Land Anspruch darauf hat Zugang zu seinen anderen Landesteilen zu bekommen, sollte selbstverständlich sein. Wenn sich die beiden Länder im Krieg befinden ist das was anderes. Nun da Armenien den Krieg verloren hat und die Blockade aufheben muss, kontrolliert es doch aber immer noch die über seinem Territorium verlaufenden Straßen und Bahnstrecken, nicht? Es muss also nicht alle Transporte durchlassen. Türkische Militärtransporte gehören sicher nicht dazu. Ich finde ja auch Armenien hat in diesem Fall immer noch genug Verhandlungsspielraum Bedingungen zu stellen, und andere Staaten sollten Armenien darin unterstützen, nämlich wenn es Aserbaidschan jetzt bald wieder möglich sein soll via Nachitschewan Eisenbahnanschluss in die Türkei und damit ans europäische Eisenbahnnetz zu erhalten, sollte die Türkei auch den Eisenbahn- und Straßenanschluss wieder für Armenien freimachen, den es seit Ende es 1. Karabachkrieges blockiert. Das wäre eine vernünftige praktische Forderung, wie ich finde, jedenfalls besser als vom Einfallstor für den Panturkismus zu fabulieren, der Austausch der beiden Länder ließe sich ohnehin nicht verhindern, mit oder ohne Panturkismus, auch wenn ich den unappetitlich finde. Müssen Aserbaidschan und andere turksprachige Staaten aber selbst wissen ob sie sich von der Türkei vereinnahmen und zu Satrapen des Sultans von Ankara machen lassen wollen. Aber ich denke sie wissen was sie an ihrer Unabhängigkeit haben und sind auch nicht mehr so arm dass sie sich von Erdokhan kaufen lassen müssen, villeicht ist sogar das Gegenteil inzw. richtig. Also: gleiches Recht für alle. Azerbaidschan möchte Straßen- u. Bahnverbindungen über armenisches Territorium an das türkische/ europäische Netz. Dann soll die Türkei den Weg für Armenische Verbindungen auch wieder frei machen.

    • @ingrid werner:

      Sehe ich auch so und Willy Brandt würde sagen, dass nun zusammenwächst, was zusammen gehört.

  • Danke! Ein guter Hintergrundbericht. Ach ja, schöner wär's ja noch mit einer Landkarte...

    • @dodolino:

      Prinzipiell stimmen die Angaben. Könnten aber etwas genauer sein.

      "Genau vor 100 Jahren hatte Mustafa Kemal Atatürk darauf bestanden, dass die Sowjetunion die Region Nachitschewan nicht Armenien, sondern Aserbaidschan zuordnete."

      Da gab es die Sowjetunion noch nicht. Sie wurde erst am 30. Dezember 1922 gegründet. Die Organisation die Sowjetrepubliken im Kaukasus hat sich zwischendurch mal geändert.