Türkei-Referendum in Berlin: Aus Trotz für Erdoğan
Weil Deutschland gegen den Präsidenten sei, sind sie für ihn – so denken viele Türken in Berlin. Doch der Riss in der Community ist tief.
Evet oder Hayır. Ja oder Nein.
Es geht um die neue Verfassung in der Türkei. Eine Verfassung, die den türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit viel Macht ausstatten würde. Selbst die sozialdemokratische Partei des Republikgründers Atatürk, CHP, die größte Oppositionspartei in der Türkei, spricht von einer drohenden Ein-Mann-Diktatur.
Es geht aber noch um mehr: Die Wahlbeteiligung der in Deutschland lebenden türkischen StaatsbürgerInnen ist hoch, in den ersten Tagen war sie „gleich dreifach höher als bei den türkischen Parlamentswahlen Ende 2015“, so der Vize-Vorsitzende der Berliner CHP, Ekrem Özdemir. Die Antennen der Berliner Türken und Türkeistämmigen sind ausgefahren. Die Leute wirken alarmiert. Und: Erdoğan ist ein geschickter Spalter. Für kaum jemanden mehr scheint es noch ein irgendwo Dazwischen zu geben.
Denunziationen und Beschimpfungen
Es geht ein Riss durch die Berliner Community. Viele fürchten sich zu sprechen. Kaum einer will seinen Namen in der Zeitung lesen.
Die, die gegen Erdoğan sind, berichten an diesem schönen Frühlingstag am Kotti von Hassmails, von Beschimpfungen als Vaterlandsverräter, von alten Bekannten, die draußen den Blick senken oder die Straßenseite wechseln, von Ehen, die zu zerbrechen drohen, von Denunziationen auf Facebook und Twitter.
Nicht einmal ein paar ältere Frauen aus Spandau, die sich im Namen „hart erkämpfter demokratischer Rechte, auch Frauenrechte“ klar zu einem Nein bekennen, wollen ihre Namen nennen. Sie oder ihre Familien könnten bei der nächsten Türkei-Reise Probleme bekommen, fürchten sie.
Und wie ist es mit den anderen, mit jenen, die für Erdoğan sind? Etwa die Hälfte der Türken und Türkeistämmigen verehren laut Schätzungen Erdoğan – auch in der zweiten und dritten Einwanderinnengeneration. Und das, obwohl er seine Landsleute in Deutschland gegeneinander und gegen die Deutschen aufhetzt – Deutsche also, wie sie inzwischen längst selbst welche sind, zumindest irgendwie.
„Er ist unser Präsident“
Vor einem Imbiss sitzen drei Mädchen, 17, 18 und 19 Jahre alt. Eine trägt ihr Kopftuch auf konventionelle Art, eine in Piraten-Manier, die dritte, ohne Kopftuch, betont ihre Augen, die so tief sind wie Waldseen, dick mit Kajal. In der Zeitung wollen sie anders heißen als in Wirklichkeit, denn sie kennen weder diese noch eine andere deutsche Zeitung, stehen den deutschen Medien trotzdem misstrauisch gegenüber. Dennoch nehmen sie sich ein Herz und laden zu einem Glas Tee. Nur preisgeben wollen sie zunächst wenig.
„Wir halten uns da raus“, sagen sie, wissen kaum, worüber die türkischen Staatsbürger, die ihre Großeltern noch sind, da gerade abstimmen können. Dann aber bricht es doch aus ihnen heraus. Vor zehn Jahren, sagen sie, da habe man „zu Hause“ noch im Supermarkt für ein halbes Brot anstehen müssen. Erdoğan habe das geändert. Er habe in der Türkei Autobahnen gebaut. Und Brücken. Und Flughäfen. „Er ist unser Präsident“, sagen sie. Sie würden seine Verfassung wählen, wenn sie könnten, doch leider haben sie nur die deutsche Staatsbürgerschaft.
Diese Mädchen sind eloquent und neugierig, nehmen kein Blatt vor den Mund. Und trotzdem heißen sie es gut, wenn in der Türkei die Meinungsfreiheit beschnitten wird. Sie kennen den Fall Deniz Yücel, halten den Journalisten tatsächlich für einen Terrorhelfer. Sie finden es richtig, Menschen den Mund zu verbieten, wenn sie nicht genug Respekt zeigen. Sie empfinden Erdoğan als starken Mann, der nur Gutes will für sein Land. Und sie denken, die Deutschen sind nicht nur einfach kritisch, sondern überheblich und abwertend. „Ihr wollt bloß nicht, dass die Türkei groß rauskommt“, das ist die Antwort von der mit den großen Augen, die Gül heißen will.
Sie kennen die Erzählungen der Großeltern, die als Gastarbeiter kamen. Wie Deutschland sie wieder loswerden wollte, als es sie nicht mehr brauchte. Wie es ihnen Rückkehrprämien anbot, statt ihnen die Hand zu reichen. Und was ist mit ihnen selbst? Fühlen sie sich von irgendwem kleingehalten? „Nein“, lachen sie, „eher nicht.“ Der Vater von der, die Mina heißen will, ist Koch, sie macht gerade Abitur. Der Vater von der, die Gül heißen will, ist Geschäftsmann, auch sie will Abitur machen. Alle drei haben große Pläne, was danach kommen soll.
Kalter Krieg
Tatsächlich herrscht nicht nur kalter Krieg zwischen den Berliner TürkInnen, sondern auch zwischen den hiesigen Ablegern türkischer Parteien: Während die Erdoğan-Partei AKP ihre Anhänger während des gesamten Referendums viermal täglich von vier verschiedenen Orten in der Stadt abholt und zum Konsulat fährt und per Briefpost Werbung für die neue Verfassung an die Berliner TürkInnen schickt, versuchen andere, ihre Landsleute zu einem „Nein“ zu mobilisieren.
Die CHP verteilte Flyer auf Märkten oder warf welche in Briefkästen ein, organisierte Infoveranstaltungen und einen Autokorso. Die Alevitische Gemeinde lud Ende Februar zu einer gut besuchten Veranstaltung unter dem Motto „Berlin sagt Nein“ an der Technischen Universität.
Beide bieten wie die AKP Shuttleservice zum Konsulat an. Und die linke kurdische Partei HDP, die noch am Samstag vor den Wahlen eine Demo mit mehr als 300 Personen auf die Beine stellte, protestierte vor dem Konsulat gegen die Benachteiligung der HDP bei den Wahlen. Denn Mitglieder der HDP sind anders als die anderen drei großen Parteien AKP, CHP und MHP nicht zu den Wahlausschüssen zugelassen. Sie können nur Wahlbeobachter ohne Entscheidungsbefugnisse stellen.
TBB bleibt neutral
Neutral bleiben wollen nur wenige Berliner Verbände, etwa der Moscheenverband Ditib und die Türkische Gemeinde Berlin – anders als die bundesweite Türkische Gemeinde Deutschland mit ihren Nein-Kampagnen. Der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) gibt sich schon aus Prinzip neutral: „Wir mischen uns nicht in die Türkei-Politik ein“, sagt eine Sprecherin.
Türkeistämmige junge Frauen am Kottbusser Tor, nicht wahlberechtigt
Nicht einmal ganz neun Monate ist es her, dass in der Türkei ein Militärputsch scheiterte, der das Ziel hatte, Erdoğan zu stürzen. Damals äußerten sich viele Passanten, Restaurantbesucher und Ladenbesitzer am Kotti noch recht belustigt und hoffnungsvoll.
Nun, so scheint es, ist die Stimmung gekippt. Es ist ja auch viel geschehen seitdem. Erdoğan hat durchgefegt. 40.000 Festnahmen, 80.000 Suspendierungen im öffentlichen Dienst. 4.262 Einrichtungen geschlossen, beschlagnahmt oder an öffentliche Einrichtungen übertragen, darunter Schulen, Universitäten, Stiftungen, Zeitungen, Verlage, Gewerkschaften. Es herrscht Eiszeit in der Türkei.
Der Tourismus bricht ein, viele europäische Länder gehen auf Konfrontationskurs. Zuletzt sagten Deutschland und die Niederlande Wahlkampfauftritte von Ministern der AKP-Regierung ab, Erdoğan bemühte Nazi-Vergleiche. Gerade untersuchen deutsche Behörden das Gerücht, türkische Geheimdienste würden im großen Stil Anhänger der Gülen-Bewegung in Deutschland ausspionieren.
Weil Deutschland gegen ihn ist
„Wir sind nicht dumm, wir sind auch nicht blind“, sagt zu alldem ein türkischer Taxifahrer, der mit Vornamen Murat heißt und 40 Jahre alt ist. Er hat sich vorgenommen, noch in dieser Woche wählen zu gehen. Er wird für die Verfassungsänderung stimmen. Für ihn ist Erdoğan ein Held. Ein Mann, der vor keinem Angst hat, der endlich mal mit der Faust auf den Tisch schlägt. Ein Kümmerer, der dem Osmanischen Reich wieder zu seiner alten Größe verhelfen will.
Und die Deutschen? „Warum mischt ihr euch nicht mehr bei Putin ein? Warum nicht mehr in Italien, in Saudi-Arabien?“, fragt er. „Für mich ist das ein gutes Zeichen. Denn für euch sind nur die starken Gegner interessant.“
„Wir sind für Erdoğan, weil Deutschland gegen Erdoğan ist“: Dieses Argument hört man immer wieder dieser Tage am Kottbusser Damm. Selbst von solchen, die nicht ganz so überzeugt sind. Ein Finanzberater in den Vierzigern zum Beispiel. Er war zuerst unentschlossen. Dann aber haben ihn „die Hetzkampagnen in Europa“ zu einem Ja bewegt.
Ein anderer, ebenfalls in den Vierzigern, überlegt sogar, in die Türkei auszuwandern. Er sei vom Türkei-Bashing in letzter Zeit bitter enttäuscht.
Noch ein Geschäftsmann. Er will in der Zeitung mit seinem Vornamen Atilla genannt werden. Er trägt ein elegantes Hemd in leuchtendem Blau, ist etwa so alt wie Taxifahrer Murat. „Von wegen Brücken“, grinst er.
Erdoğan habe die Brücken auf Pump gebaut. Er habe den Bauherren große Zahlen von Autos versprochen, die Maut in die Kassen spülen werden. Die seien aber ausgeblieben. Nun müsse er die fehlende Maut aus Steuergeldern begleichen. Was die Leute nicht sehen: Erdoğan hat keine Arbeitsplätze geschaffen. Der Tourismus ist nach wie vor eine der Haupteinnahmequellen.
„Wir sind Aleviten“
Anders als Taxifahrer Murat ist Atilla schon lange deutscher Staatsbürger. Wie Murat kam auch er in einem Alter nach Deutschland, in dem Kinder Probleme haben können, wenn sie brutal verpflanzt werden. Woran liegt es, dass er sich trotzdem besser aufgehoben zu fühlen scheint in der deutschen Normalität als andere? „Wir sind Aleviten“, erklärt Atilla. „Aleviten sind in der Türkei nicht gerade beliebt.“ Vielleicht hat Atilla recht. Vielleicht liegt es nicht nur am verkorksten Verhältnis Deutschlands zu seinen Einwanderern, dass sich viele der deutschen Türken derzeit so hingezogen fühlen zu Erdoğan.
Atillas kritische Haltung ist hausgemacht: Seine Eltern haben schon deshalb den Kindern ein gebrochenes Verhältnis zur Türkei weitergegeben, weil sie Aleviten waren. Doch nicht nur Aleviten stehen der neuen Verfassung kritisch gegenüber. Die Debatten vor dem Referendum haben erstaunliche Koalitionen zwischen den Ja- und Nein-Lagern hervorgebracht. Auch Teile der rechtsextremen Graue-Wölfe-Partei MHP sprechen sich anders als ihr Vorsitzender Devlet Bahçeli gegen eine Verfassungsänderung aus.
Auch Atilla sieht hin und wieder Fragezeichen in den Augen selbst der eingefleischtesten Erdoğan-Fans. „Sie fragen sich, was Erdoğan denn noch alles will“, sagt er.
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