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Türkei Politiker der kurdischen HDP werden festgenommen. Viele Kurden sehen ein Ende des legalen ProtestsAuf dem Weg in den Bürgerkrieg

Von Jürgen Gottschlich

Es war 1.25 Uhr in der Nacht vom Donnerstag auf den Freitag, als der Kovorsitzende der HDP, Selahattin Demirtas, folgenden Tweet absetzte: „Die Polizei steht vor meiner Wohnungstür. Sie haben einen Haftbefehl.“ Kurz zuvor war bereits Figen Yüksekdağ, seine Partnerin in der Doppelspitze der kurdischen Partei, in Ankara verhaftet worden. Dann ging es Schlag auf Schlag. Sırrı Süreyya Önder, Idris Baluken, Ziya Pir und weitere prominente Abgeordnete kamen in Haft.

Kurz darauf stürmte die Polizei unter heftigen Protesten anwesender Parteimitglieder die Zentrale der Partei in der türkischen Hauptstadt Ankara. Auf einem im Internet verbreiteten Video ist ein kurzes Gerangel zu sehen. Eine Stimme ist zu hören, die immer wieder ruft: „Hier werden sechs Millionen Wähler vergewaltigt“. Dann wird abgeschaltet.

Die Festnahme der gesamten Parteispitze der kurdisch-linken HDP löste einen Sturm der Entrüstung aus. Noch in der Nacht gingen in Diyarbakır erste Demonstranten auf die Straße, in Ankara setzte die Polizei Tränengas und Wasserwerfer gegen Demonstranten ein.

Eine Pressekonferenz der HDP in Ankara verhinderte die Polizei. Das gesamte Parteigebäude war weiträumig abgesperrt, kein Journalist wurde durchgelassen. Die HDP äußerte sich daraufhin schriftlich und verurteilte die Festnahmen in scharfer Form. „Das Vorgehen der türkischen Regierung gegen die HDP bedeute „das Ende der Demokratie in der Türkei“. Die Verhaftungen der politischen Spitze der Partei sei eine Art „Lynchjustiz“.

Gegen die Festnahmen protestierte auch die CHP, die nun als einzige Oppositionspartei im Parlament übrig bleibt, da die Ultranationalisten von der MHP gegenüber Staatschef Rezep Tayyip Erdoğan bereits vor Monaten ihre Unterstützung beim gewaltsamen Vorgehen gegen die Kurden zugesagt haben.

Im Laufe des Freitags wurden alle inhaftierten Abgeordneten einem Haftrichter vorgeführt. Nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yıldırım sollen die Festnahmen deshalb erfolgt sein, weil die Beschuldigten einer Aufforderung, bei der Polizei vorzusprechen, nicht gefolgt seien. Gegen alle sind eine ganze Reihe von Verfahren eingeleitet worden, allein gegen Parteichef Selahattin Demirtaş gibt es mehr als achtzig. Angefangen von dem Vorwurf, er und seine Ko-Chefin Figen Yüksekdağ hätten eine kriminelle Organisation gegründet, über die Mitgliedschaft und Propaganda für eine Terrororganisation ist so ungefähr alles dabei, was der türkische Staat derzeit Oppositionellen vorwirft. Schon vor Monaten war auf Drängen von Erdoğan die Immunität von 57 der insgesamt 59 HDP-Abgeordneten aufgehoben worden. Seitdem war jederzeit mit Festnahmen gerechnet worden.

Dass nun aber die gesamte Parteiführung auf einen Schlag einkassiert wurde, kann auch taktische Gründe haben. Nach der Verhaftung des Chefredakteurs und führender Journalisten der linksliberalen türkischen Oppositionszeitung Cumhuriyet am letzten Montag wird mit dem neuerlichen Schlag die Solidaritätsbewegung gegen die Regierung aufgesplittert. Während die Kurden gegen die Festnahmen ihrer Führungsleute protestieren, bemühen sich die türkischen Linken vor allem um die Unterstützung der Cumhuriyet. Beides zusammen führt dazu, dass die demokratische, friedliche Opposition immer stärker marginalisiert und in die Ecke getrieben werden könnte.

„Die Zeit des Redens ist vorbei. Wir ­müssen uns anders zur Wehr setzen“

Kurdische Politikerin Sebahat Tuncel

Manche Kurden sehen bereits die Möglichkeiten des demokratischen Widerstands erschöpft. Sebahat Tuncel, frühere Vorsitzende der kurdischen Partei BDP und heute in den kurdischen Gebieten aktiv, sagte am Freitag: „Die Zeit des Redens ist jetzt vorbei. Wir müssen uns anders zur Wehr setzen.“ Wenige Stunden später wurde auch sie festgenommen.

Am Freitagmorgen gegen 8 Uhr Ortszeit zündete mutmaßlich die PKK nur wenige Stunden nach den Festnahmen eine gewaltige Autobombe in unmittelbarer Umgebung des Provinzhauptquartieres der Polizei in der mehrheitlich kurdischen Millionenmetropole Diyarbakır. Acht Menschen starben bei der Explosion, über 100 wurden verletzt.

Die Türkei droht damit vollends in einen von der türkischen Regierung und ihrem Präsidenten Erdoğan forcierten Bürgerkrieg zu geraten. Schon im Frühjahr hatte es in etlichen kurdischen Städten entlang der syrischen und irakischen Grenze heftige Kämpfe zwischen kurdischen Militanten und der Armee gegeben. Ganze Stadtteile sind dabei zerstört worden. Viele Kurden sehen nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen ihre gewählte Führung keine andere Möglichkeit mehr als Gewaltmittel. Die meisten Kurden haben wohl zumindest Verständnis für diejenigen unter ihnen, die nun den Weg zum bewaffneten Widerstand einschlagen. Präsident Recep Tayyip Erdoğan scheint das egal zu sein, ja es scheint, als setze er geradezu auf diese Konfrontation. „Mit maximaler Gewalt“, so ein langjähriger unabhängiger politischer Analyst, „will Erdoğan die Kurdenfrage nun zu Ende bringen“.

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