Türkei Istanbul war ein beliebtes Reiseziel, jetzt kommen kaum noch Touristen. Wie soll es weitergehen?: Alles ist nun so leer
Aus Istanbul Jürgen Gottschlich
Um über den Unterschied zwischen Schönfärberei und Wirklichkeit zu sprechen, nimmt Erdoğan Altındiş den Bericht in die Hand, den das türkische Kultur- und Tourismusministerium gerade veröffentlicht hat. Der Tourismus in Istanbul sei 2016 um 26 Prozent zurückgegangen, steht darin, nur noch neun statt zwölf Millionen Touristen. „Das ist doch lächerlich“, sagt er. „Wir und andere Tourismusbetriebe, die ich kenne, haben ein Minus von 60 bis 80 Prozent.“
Altındiş bastelt in seinem neuen Atelier gerade an einer Lampe herum, aber die kann warten. Er hat Zeit, denn es kommen ja kaum noch Besucher. Die Gründe: Krieg an den Grenzen, Terroranschläge in immer kürzerer Taktfolge, ein Präsident, der das Land immer autoritärer führt und jegliche Kritik brutal unterdrückt. „Das alles“, sagt er, „hat den Tourismus in Istanbul nahezu zum Erliegen gebracht.“
Zusammen mit seiner Frau hat Altındiş in den vergangenen 20 Jahren ein Tourismusprojekt aufgebaut. Manzara heißt es, gute Aussicht, ihre Ferienwohnungen haben sie mit einem Atelierhaus kombiniert, in dem deutsche und türkische Künstler ausstellen; für die Gäste veranstalten sie auch Lesungen, Konzerte und Kochkurse.
Für den Unterschied zwischen den offiziellen Zahlen und der Wahrnehmung der Tourismusbranche gibt es eine Erklärung: Das Ministerium zählt alle über die Istanbuler Flughäfen eingereisten Ausländer. Viele davon aber arbeiten in der Stadt, haben hier Verwandte oder sind schlicht auf der Durchreise. Echte Touristen waren wohl höchstens die Hälfte.
Wer wissen will, welches Ausmaß die Krise tatsächlich erreicht hat, muss den Großen Basar besuchen, hier schlägt das Herz des Tourismus. Oder besser, es schlug.
Ali Osman Cinar ist ein alteingesessener Teppichhändler, dem ein großer Laden nahe dem Hauptweg durch den Basar gehört. „Das letzte Jahr war schon sehr schlecht“, sagt er, „wenn es 2017 nicht deutlich besser wird, vermiete ich meinen Laden und gehe nach Neuseeland.“ Er macht keinen Hehl daraus, dass er Präsident Recep Tayyip Erdoğan für die Misere verantwortlich macht. „Krieg und Terror machen uns das Geschäft kaputt. Erdoğan interessiert nur seine Macht. Was die Leute denken, kümmert ihn nicht.“ Hoffnung hat er keine. „Die Währung stürzt ab, die Kosten werden immer höher, und Erdoğan faselt von einer ausländischen Verschwörung. Wie soll es da besser werden?“
Von insgesamt 3.500 Läden im Basar stehen 500 leer. Wie verzweifelt die Basaris tatsächlich sind, offenbart ein anderer Teppichhändler schon nach wenigen Sätzen. Für den Laden müsse er 4.000 Dollar Miete im Monat zahlen, erzählt Mustafa Akin, und er habe seit Wochen keine Kunden. „Den letzten Teppich habe ich vor sechs Wochen verkauft. Wenn nicht endlich Leute kommen, muss ich in spätestens drei Monaten schließen.“ Wie er dann seine Familie ernähren soll, weiß er nicht.
Die Währung: Die türkische Lira befindet sich im Fall. Seit dem Putschversuch im Juli 2016 hat sie 33 Prozent ihres Wertes gegenüber Dollar und Euro verloren. Der Zentralbank gehen die Devisen aus, und die lebensnotwendigen Importe wie Öl und Gas werden immer teurer.
Die Wirtschaft: Im dritten Quartal 2016 ist die Wirtschaft erstmals seit zehn Jahren nicht mehr gewachsen, sondern um 2 Prozent geschrumpft. Ausländische Investoren ziehen ihr Geld ab, Exporte gehen zurück, und der Tourismus fällt als wichtigster Devisenbringer aus. Experten machen den politischen Kurs, Rechtsunsicherheit und die Terrorgefahr dafür verantwortlich.
Für Erdoğan Altındiş und seine aus Deutschland stammende Frau Gabriele Kern-Altındiş ist die Not noch nicht ganz so groß. „Auf dem Höhepunkt, so von 2010 bis 2013“, erzählt sie, „hatten wir 55 Wohnungen und über 30 Mitarbeiter. Es war anstrengend, aber es hat auch unglaublich viel Spaß gemacht.“ Doch gerade weil die Manzara-Gäste ein besonderes Interesse an der Stadt haben, haben die Vermieter jetzt auch besonders große Probleme. Denn nicht nur wegen der Terroranschläge bleiben die Gäste weg. „Sie kommen hauptsächlich aus politischen Gründen nicht mehr“, sagt Erdoğan Altındiş. „In der neuen Türkei von Präsident Erdoğan wollen viele keinen Urlaub mehr machen.“
Schon 2014 und 2015 sei es schlecht gewesen, sagen die beiden, und 2016 eine Katastrophe. „Viele buchen im Januar“, sagt Gaby Kern-Altındiş. Und letztes Jahr um diese Zeit war der Anschlag, bei dem zwölf deutsche Touristen starben. Die Folge: sehr wenige Reservierungen. Und so ging es weiter, selbst die treuesten Gäste zögerten. „Nach dem Anschlag auf den Nachtclub Reina an Silvester können wir 2017 auch abschreiben.“
Ein Rundgang durch die historische Altstadt zeigt, dass diese Prognose praktisch auf alle Hotels in Istanbul zutrifft. Von kleinen Backpackerhäusern über gute Mittelklassehotels bis zu den Fünfsterneanlagen herrscht überall gespenstische Leere. Im Boutiquehotel Sultan Hill, direkt an der Blauen Moschee, sitzt der Besitzer allein in seiner Lobby. „Ich habe im Moment einen Gast“, sagt er, „und für die kommenden Monate auch nur eine Buchung.“ Er ist nicht sehr optimistisch, dass sich das noch ändert. „Die Amerikaner, die sonst zu mir gekommen sind, haben Angst, nach Istanbul zu reisen. Ich verstehe das. Wenn ich in den USA oder in Europa leben würde, käme ich auch nicht mehr hierher.“
Viele kleine Hotels und Pensionen in der Nachbarschaft haben bereits aufgegeben. Selbst das berühmte Yeşil-Ev, eines der ersten Hotels, in historischer osmanischer Kulisse, ist dicht. So weit ist das Four Seasons an der Hagia Sophia noch nicht, doch auch in der Lobby dieses wohl besten und teuersten Hotels der Stadt ist es auffallend ruhig. Kein Gast in Sicht, das Restaurant leer.
Was für die Hotels in der historischen Altstadt gilt, trifft auch für die Häuser in Beyoğlu zu, dem europäischen Ausgehviertel. Der Manager des „World Elite Hotel“ hofft zwar, dass sich das bald wieder ändert, doch an die von der Regierung versprochenen Stabilität glaubt er nicht: „Die kann Präsident Erdoğan auch mit einer neuen Verfassung nicht garantieren.“
Im Büyük Londra, dem Klassiker für deutsche Istanbulkenner, in dem Fatih Akin einige Szenen seines Films „Gegen die Wand“ gedreht hat, versucht der Mann an der Rezeption seine Langeweile mit Kreuzworträtseln zu bekämpfen. „Wir kommen am Morgen her und gehen am Abend. Dazwischen haben wir nichts zu tun“, sagt er. Auch für die nahe Zukunft sehe es schlecht aus: keine einzige Buchung für die Hauptsaison von April bis Juni.
Erdoğan Altındiş, Unternehmer
Im Rest der Türkei sieht die Lage nicht viel besser aus. An der Riviera sind etliche Hotels bereits geschlossen und rotten vor sich hin, mehr als tausend sollen zum Verkauf stehen. Der größte deutsche Reiseveranstalter TUI freut sich, dass die Deutschen in diesem Jahr früh ihren Urlaub buchen. Spanien und Griechenland sind besonders gefragt, heißt es. Bei Türkeireisen gingen die Buchungen deutlich zurück, konkrete Zahlen nennt der Konzern nicht.
Nihat Gencosman ist seit 30 Jahren Reiseleiter in Bodrum, einem der wichtigsten Ferienorte an der Südküste. Er habe noch nie einen solchen Einbruch im Tourismus erlebt wie jetzt, sagt er. „Schon 2016 hatte ich nur eine einzige Reisegruppe, für 2017 gibt es überhaupt keine Buchung.“
Gaby Altındis in Istanbul glaubt nicht, dass sich bald wieder etwas ändert. „Der Tourismus hier ist erst einmal tot“, sagt sie. „Er wird auch nicht so schnell zurückkehren. Dafür ist das Image der bunten, toleranten Metropole zu nachhaltig zerstört.“ Ihre Strategie: die Ausgaben so weit wie möglich reduzieren. Sie haben nur noch sechs Mitarbeiter und zehn Ferienwohnungen.
Sie legen eine Kreativpause ein, so nennen sie es. Aber sie wollen bleiben. Denn Istanbul sei ja eine tolle Stadt.
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