Truppenabzug aus Afghanistan: Frucht der Scham
Afghanische Mitarbeiter der Bundeswehr sollen nach Deutschland kommen können. Das ist das Geringste, was die Bundesrepublik noch leisten kann.
Sie standen vor dem Lager und schienen es zu bewachen, sie putzten den Speisesaal, sie nahmen grinsend die abgefutterten Essenstabletts entgegen. Sie kreuzten die staubigen Straßen des Lagers, die sie offenbar instand zu halten hatten. Die am besten Ausgebildeten unter ihnen aber, diejenigen, mit denen auch JournalistInnen auf Truppenbesuch zu tun bekamen, das waren die Dolmetscher. Auf Bundeswehrdeutsch hießen sie „Sprachmittler“.
Oft genug waren sie auch Berater und Fremdenführer für die deutschen Truppen. Weil die Situation im deutschen Außenposten Kundus ja bis etwa 2008 beinahe idyllisch war – im Innenhof der Schlafquartiere wurden Rosen gezüchtet –, bereiteten die Sprachmittler für manchen kleinen Pressetross auch mal afghanisches Essen zu. Sie machten sich über die zweitklassigen importierten Zutaten lustig, die von den Nato-Caterern verwendet wurden.
Der Lohn der afghanischen Ortskräfte war gemessen am Sold beschämend, aber nach afghanischen Maßstäben fürstlich. Jedenfalls war es ein Vielfaches dessen, was zum Beispiel ein afghanischer Polizist bekam, was wiederum weit mehr war, als ein Lehrer hatte. Es könne, so wurde erläutert, natürlich nicht Zweck eines solchen Auslandseinsatzes sein, die Preise im Land zu verderben: Die afghanische Ökonomie, hieß es, müsse ja auch ohne die Nato-Truppen wachsen und gedeihen, logisch.
Es war ein nur mittelfrommer Wunsch. Denn so eine ausländische Truppenpräsenz verdirbt die Preise vor Ort in jeder Hinsicht, auch die Preise der Sicherheit von Leib und Leben. Der Schutz für die afghanische Zivilbevölkerung, von dem in den Parlaments- und Präsidentenansprachen der Nato-Staaten so viel die Rede war – in den Ohren vieler Afghanen (und mancher Afghaninnen) war er ein echtes, persönliches, an sie gerichtetes Versprechen.
Natürlich wussten sie, dass sie für die Taliban zum Feind würden, wenn sie an der Seite der Briten, Amerikaner oder Deutschen arbeiteten. Natürlich hofften sie, auch so gut geschützt zu werden wie Briten, Amerikaner und Deutsche ja immer und überall geschützt werden – tausendfach besser, wenn man die Todeszahlen in Afghanistan zugrunde legt. X-fach gefährdeter sind sie nun, da die US-Amerikaner und damit die komplette Nato ihren Rückzug ohne weitere Bedingungen, also auch ohne Friedensvertrag mit den Taliban angekündigt haben.
Es ist deshalb erst einmal erleichternd, dass die deutsche Verteidigungsministerin die sogenannten Ortskräfte nicht vergessen hat. „Ich empfinde es als eine tiefe Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland, diese Menschen jetzt, wo wir das Land endgültig verlassen, nicht schutzlos zurückzulassen“, gab Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) gleich in ihrer ersten öffentlichen Stellungnahme zum Abzug zu Protokoll. Das Innenministerium plant laut Welt am Sonntag Anlaufstellen, wo Ortskräfte die Möglichkeit haben sollen, „auch innerhalb von zwei Jahren nach Beendigung ihres Dienstes ihre Gefährdung anzuzeigen“.
Das sind immerhin andere Töne als noch 2013. Damals zog der Löwenanteil der Truppen ab. Während andere Nato-Staaten umstandslos erklärten, sie nähmen ihre Ortskräfte mit, wenn diese wollten, begann in Deutschland ein peinliches Gewürge zwischen Verteidigungs- und Innenministerium darum, wer denn nun als wie gefährdet anzusehen sei, und ob dies dann auch gleich die ganze Familie beträfe.
Es musste erst ein ehemaliger Sprachmittler in Kundus ermordet werden, bis politische Bewegung in die Sache kam. 781 Ortskräfte plus Familien seien seit 2013 in Deutschland aufgenommen worden, gibt das Verteidigungsministerium an, darunter auch solche, die etwa für das Entwicklungsministerium gearbeitet hätten. Dies gilt als großzügig. Doch noch 2018 demonstrierten vor den Toren des deutschen Lagers in Masar-i-Scharif ehemalige Ortskräfte, die sich zu Unrecht vom Aufnahmeprogramm ausgeschlossen sahen.
Nun direkt zuzugestehen, dass die Bundesrepublik Verantwortung für ihre afghanischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter vor Ort trägt, heißt übersetzt: Wir gehen, wir hinterlassen das Chaos, das ihr kennt. Aber wenigstens ein paar Hundert von euch lassen wir nicht im Stich. Alle anderen bleiben ja wohl da, wo sie sind – egal, was jetzt hier wird.
Es ist eine Frucht der beschämenden Umstände, unter denen die Nato abzieht. Eine bittere Frucht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Die Wahrheit
Der erste Schnee
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen