Trittin über Kriege und Völkerrecht: „Europa nahm IS-Wachstum in Kauf“

Jürgen Trittin über ein Syrien ohne Assad, russischen Völkerrechtsbruch und die Frage, ob man durch Nichtstun schuldig werden kann.

Barrikaden auf dem Maidan

„Wenn ein Despot vom Schlage eines Janukowitsch vom Hof gejagt wird, finde ich als alter Linker das erst mal gut“, sagt Jürgen Trittin. Foto: dpa

taz: Herr Trittin, wenn Sie die gegenwärtigen Krisen von der Ukraine bis nach Syrien betrachten: Handeln wir das zu routiniert ab angesichts der Tatsache, dass rund um Westeuropa gefährliche Krisenherde entstanden sind?

Jürgen Trittin: Wir flüchten uns vor allem zu oft in falsche Erklärungsmuster. Die Ukrainekrise wird weitgehend als Wiederaufleben des Kalten Krieges angesehen. Aber die Lage dort hat mit der in Syrien, dem Irak oder in Libyen viel mehr gemein. Wir haben es in all diesen Fällen mit hybriden und asymmetrischen Konfliktformen zu tun, wo sich nicht zwei Blöcke gegenüberstehen oder große Landheere aufeinanderstoßen. Da agieren vielmehr Warlords, Guerillas, Special Forces. Auch bei der Entstehung dieser Krisen gab es überraschende Gemeinsamkeiten, vor allem eine Regierungsführung, die weite Teile der Bevölkerung ausschließt. In Syrien ebenso wie in der Ukraine.

Bestreiten Sie, dass es sich im Fall der Ukraine vor allem um eine russische Aggression handelt?

Natürlich gibt es eine russische Aggression. Aber das ist nicht alles. Die Grenze zwischen Innen- und Außenpolitik schwindet. Russland hat sich die innere Dynamik der ukrainischen Gesellschaft sehr genau angeschaut. Der Maidan war für Putin ein Menetekel, die verheerende Konsequenz der russische Völkerrechtsbruch auf der Krim. Das festzustellen ist jedoch etwas anderes, als wenn man – wie jetzt im Baltikum – Russland unterstellt, es würde nur darauf warten, ganz Europa zu erobern. Putin denkt in Einflusssphären.

Das sieht die Nato anders und rüstet deshalb in Osteuropa auf.

Die Nato glaubt, sie könne mit zusätzlichen Panzerhaubitzen und der Nachrüstung von Panzern in die Zeit der symmetrischen Konflikte zurückkehren. Dabei brauchen wir eine andere Prioritätensetzung, nämlich einen Ansatz, der Staatszerfall aufgrund von Korruption, Rohstoffkonkurrenz und ungleicher Reichtumsverteilung entgegenwirkt. Das ist mehr als eine militärische Herausforderung. Aber manchmal ist es eben bequemer, auf das zurückzugreifen, was man kennt. Die Nato hat 25 Jahre Selbstfindungsdebatte hinter sich, Diskussionen, wozu sie noch gut ist. Und jetzt gibt es den Konflikt in der Ukraine, und sie kann endlich wieder darüber nachdenken, ob wir nicht mehr Panzer brauchen und schnellere Verlegungsfähigkeiten. Dahinter steht ein großer industrieller Komplex, der davon profitiert.

Die andere Sicht auf den Konflikt heißt: Russland fühlt sich seit dem Mauerfall vom Westen eingekreist und reagiert deshalb so heftig.

Die Wahrheit ist: Der EU-Beitritt der baltischen Staaten geschah mit Zustimmung Russlands. Putin selbst hat der Nato-Osterweiterung zugestimmt. Das Ergebnis war der Nato-Russland-Rat. Allerdings hat die Nato dann immer noch etwas draufgesetzt, zum Beispiel den Raketenabwehrschirm, der sich offiziell gegen den Iran richtete. Den könnte man ja nach dem Durchbruch im Atomstreit mit Teheran einstampfen. Das wäre ein gutes Signal im Verhältnis zu Russland, weil es die Putin’sche Erzählung, man sei vom Westen eingekreist, entkräftet.

ist Mitglied des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Der frühere grüne Bundesvorsitzende war von 1998 bis 2005 Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, von 2009 bis 2013 stand der 60-Jährige der Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen vor.

Und – wird der Raketenschirm eingestampft?

Ich fürchte, nein. Aber ich habe auch nie geglaubt, dass er nicht gegen Russland gerichtet ist. Trotzdem wäre es richtig, und man sollte es tun.

Den Menschen in der Ukraine hilft das wenig.

Es wäre ein Beitrag zur Entschärfung der Situation. Es steht doch fest: Dieser Konflikt muss auf dem Verhandlungswege gelöst werden. Bei dieser Einschätzung gibt es in Deutschland, wenn Sie die Rhetorik beiseitelassen, eine Allparteienkoalition. Bisher hat es die deutsche Außenpolitik geschafft, dass diese Position von den Europäern mitgetragen wird. Das ist angesichts der Haltung im Baltikum nicht einfach – und steht zudem in scharfem Kontrast zu der Mehrheitsauffassung im US-Kongress.

Es steht auch im Kontrast zu Äußerungen aus Ihrer eigenen Partei. Marieluise Beck und auch Rebecca Harms klingen mitunter so, als würden sie sich am liebsten selbst das G 36 umschnallen, um in der Ukraine Putin in den Arm zu fallen.

Ich teile ausdrücklich ihre Begeisterung für den Maidan, auf dem Menschen gegen ein korruptes Regime aufgestanden sind. Wenn ein Despot vom Schlage eines Janukowitsch vom Hof gejagt wird, finde ich als alter Linker das erst mal gut. Aber ich bin auch nicht naiv. Die berechtigte Wut über die russische Aggression sollte einen nicht verführen, die Missstände innerhalb der Ukraine schönzureden. Nicht nur in Russland werden Journalisten ermordet, auch in der Ukraine. Deswegen ist es unklug, sich einfach in eine blau-gelbe Fahne zu hüllen. Die Grünen haben in all ihren Beschlüssen immer gesagt, dieser Konflikt ist militärisch nicht zu lösen.

Nach Ihrer Parteifreundin Harms ist nun auch der CDU-Bundestagsabgeordnete Karl-Georg Wellmann von Russland mit einem Einreiseverbot belegt worden. Wie bewerten Sie das, und welche Konsequenzen sind daraus zu ziehen?

Der Kreml agiert hier ziemlich dreist. Das soll ein Zeichen an die Bundesregierung sein, nach dem Motto: Parlament und Zivilgesellschaft sollen sich gefälligst aus der Lösung des Konflikts raushalten. Dieser Drohung darf man nicht nachgeben. Deshalb ist es richtig, dass die Deutsch-Russische Parlamentariergruppe im Juli nach Russland fahren will. Und deshalb arbeiten wir weiter mit der von Putin kriminalisierten Zivilgesellschaft zusammen.

Sind Sie der Ansicht, dass auch die Konflikte im Nahen Osten und in Nordafrika militärisch nicht zu lösen seien?

Zunächst müssen wir uns doch mal ehrlich machen. Auch wir Grüne. Wir haben infolge der Auseinandersetzung über Deutschlands Verantwortung in der Welt fast reflexhaft wieder eine Debatte „Kann man durch Nichtstun schuldig werden?“ bekommen. Ja, man kann. Aber das ist eine Debatte vom Ende der 1990er Jahre. Seitdem hat sich Deutschland an diversen Interventionen, an diversen Kriegen beteiligt und eben genau diese Logik, immer abseits zu stehen, die ihm von einigen Leuten angedichtet wird, gerade nicht praktiziert. Die Bilanz dieser Einsätze aber fällt mitnichten schwarz-weiß aus. Es gibt Militäreinsätze wie den im ehemaligen Jugoslawien, die ohne Zweifel zur Stabilisierung und einer politischen Lösung geführt haben. Andere nicht, siehe Afghanistan. Da muss man seine Ansprüche schon sehr herunterschrauben, um das dortige Nation Building für gelungen zu halten.

Woran lag das Scheitern?

An der Planlosigkeit und dem Mangel an politischen Konzepten. Vor einer Intervention muss man eine Vorstellung haben, was das Ergebnis sein soll. Wenn es daran fehlt, wird es hoch problematisch. Das gilt für Afghanistan, Irak und Libyen. Keine dieser Interventionen ist mangels militärischer Kapazitäten gescheitert. In allen drei Fällen wurden zentrale Kriterien missachtet: Man hat nicht berücksichtigt, dass man nicht nach zehn Tagen nach Hause kommt, sondern ein Problem für zehn oder mehr Jahre hat. Es gab keine Idee einer politischen Lösung. Die Folgen sind fatal. Die Menschenrechtssituation in Libyen ist heute nicht besser als vorher. Sie zu verbessern war jedoch die Begründung für die Intervention.

Was bedeutet das für den Syrienkonflikt? Ihr Parteifreund Joschka Fischer hat im taz-Interview gesagt, es sei ein Fehler gewesen, in Syrien nicht früher interveniert zu haben.

Die Einschätzung sowohl der USA wie anderer war, dass eine solche Intervention mit über 300.000 Soldaten der Amerikaner am Boden nach den Erfahrungen im Irak nicht leistbar ist. Ich halte das nach wie vor für zutreffend, insofern teile ich Joschkas Einschätzung nicht. Für mich liegt der Fehler ganz woanders. Man hat dem Bundesnachrichtendienst schlicht und ergreifend geglaubt, dass die syrische Opposition so stark ist, dass sie in wenigen Monaten siegen wird. So ist uns das hinter verschlossenen Türen mit großem Augenaufschlag exklusiv verkauft worden. Dieser Auffassung waren die Russen nie. Sie wussten, warum – und haben recht behalten.

Und was folgt heute daraus?

Es bleibt nichts anderes, als auch hier den schwierigen Weg zu einer politischen Lösung zu gehen. Das erreichbare Ziel ist ein Kompromiss, der einer jenseits von Assad sein muss und auch sein wird. Aber der eben nicht heißt, die städtische Koalition von Alawiten und Christen, die Assad gestützt hat, durch die Mehrheit der sunnitischen Landbevölkerung zu ersetzen. So war die Politik im Irak, wo die sunnitische Minderheit in den staatlichen Institutionen durch die schiitische Mehrheit aus dem Süden ersetzt wurde. Durch den Ausschluss der Sunniten ist dem IS der Boden bereitet worden. Das Setzen auf einen Regime-Change ist moralisch gerechtfertigt, aber realpolitisch untauglich, wenn nicht eine inklusive Regierung darauf folgt. Diesen Fehler macht aktuell die irakische Regierung erneut. Eine kluge europäische Politik muss versuchen, die unterschiedlichen Akteure zu einem vernünftigen Interessenausgleich zu bringen.

Der „Islamische Staat“ dürfte sich kaum mit an den Verhandlungstisch setzen.

Aber die sunnitischen Stämme. Europa hat das Wachstum von Gruppen wie dem IS und al-Nusra lange Zeit billigend in Kauf genommen. Unter der Überschrift: Alles, was dem Sturz von Assad dient, ist gut. Da guckt man nicht so genau hin, wenn vermeintliche Verbündete wie die Saudis Islamisten stark machen. Jetzt stehen wir vor einem Großkonflikt in dieser Region. Er wird nur zu lösen sein, wenn eine politische Koalition dagegen alle wesentlichen regionalen Akteure vereint – auch Riad und Teheran. Das bedeutet zudem die Beteiligung jener Kräfte, die von Russland in Syrien gestützt werden. Basis für die Bekämpfung des IS sollte ein UN-Mandat sein. Bis heute scheut sich aber die Bundesregierung, zu versuchen, ein solches Mandat durchzusetzen. Sie will das Format der Vereinten Nationen nicht, weil man sich dann mit denen einigen müsste, die man aus der Bekämpfung des IS herauszuhalten versucht. Das ist ein schwerer Fehler.

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